«Sie würde jemanden kennenlernen, und sie würde heiraten und leben, wie unsere Mutter gelebt hatte.» Dieses Schicksal sieht eine Ich-Erzählerin für ihre Schwester Marie voraus. Diese hat sich in den flotten Stan verliebt und ist mächtig stolz darauf, sich den Mann geangelt zu haben. Dabei hat sie übersehen, dass der Bursche zur üblen Sorte zählt, der seinen Bruder fast zu Tode schlägt. Den Bruder, in den sich ausgerechnet die Ich-Erzählerin verguckt hat.
Immer etwas Schmerzliches dabei
Das ist die Beziehungskonstellation in John Burnsides Kurzgeschichte «So etwas wie Glück», die dem neuen Erzählband mit zwölf Geschichten über die Liebe den Namen gegeben hat.
Wer nun knisternde Romanzen erwartet, wird enttäuscht. Denn der schottische Schriftsteller John Burnside liebt das Schmerzhafte, das leicht Verzweifelte, und exakt solche Gefühle bestimmen den Umgang der Menschen miteinander in diesem Buch.
Gleich der erste Text «Die Kälte draussen» gibt diese Tonalität vor. Der Lastwagenchauffeur Bill Harley fährt durch das winterliche Schottland. Er hat kürzlich erfahren, dass er unheilbar erkrankt ist, und sinniert über die erkaltete Beziehung zu seiner Frau. Da sieht er am Strassenrand einen Halbwüchsigen stehen, der offensichtlich gestrandet ist. Er lässt ihn mitfahren, und zwischen den beiden entwickelt sich eine Verbindung ohne grosse Worte: «Die Stille machte mir nichts aus, wenn überhaupt, dann fühlte sie sich fast angenehm an, als hätte man einen Beifahrer und wäre doch allein.»
Der 67-jährige John Burnside machte sich vor allem als Lyriker und Umweltaktivist einen Namen. Er gehört zu den führenden politischen Mahnern in Schottland. Burnside setzt sich für die «Befreiung Schottlands» ein und versteht diese als Absage an ein «feudales System der Unterdrückung » in der westlichen Gesellschaft, wie er im «Guardian » schrieb.
Die Erscheinung im Moor
Einzelne Erzählungen in diesem Band neigen zum Mysteriösen, sodass sich die Leser selbst einen Reim darauf machen müssen. Etwa in «Die Wildkammer», in der sich Burnside auf die fantastischen Geschichten des französischen Autors Guy de Maupassant bezieht.
Im Mittelpunkt steht die rätselhafte Begegnung eines E-Mail-Schreibers mit einem Mädchen in einem Moor auf der Hebrideninsel Jura: «Gerade war ich noch allein, und dann, mit einem Mal, war das Mädchen da und ging neben mir her, Schritt für Schritt über den nassen Torf.» Die Erscheinung verschwindet so plötzlich, wie sie gekommen ist. Auf eine plausible Auflösung verzichtet Burnside, erwähnt aber einen Zeitungsbericht: «Der Artikel erzählt die Geschichte eines Mannes, der nackt, allein und offenkundig verrückt an einem erhöhten Strandabschnitt der Insel aufgefunden worden war.»
Der Ärmste könnte von einer Fee verzaubert worden sein, behauptet ein Ortsansässiger. Menschliche Beziehungen sind bei Burnside mitunter geradezu quälend, etwa in der Geschichte «Roccolo». Das Wort steht für Türme, die in Italien früher der Vogeljagd dienten. Eine traumatisierte Alkoholikerin entführt jugendliche Feriengäste in Süditalien in ein solches Roccolo. Dort geschieht ihnen indes ganz anders, als man annehmen könnte. Die Geschichte ist beklemmend, man sucht darin vergeblich nach Glück. Auch das gehört zur Liebe.
Buch
John Burnside - So etwas wie Glück – Geschichten über die Liebe
Aus dem Engl. von Bernhard Robben
256 Seiten (Penguin 2022)