Ein Rentner liebt ein Mädchen. Nichts Schlüpfriges ist dabei; er hilft der jungen Migrantin Anna aus Kasachstan, im Quartier Fuss zu fassen, und unterstützt sie in der Schule – bis zur Pubertät. Der alternde Ich-Erzähler spürt nun, wie sie ihm entwächst. «Dann kam die Wut … Wie konnte sie mich so erniedrigen?», fragt er sich und schreitet zur Tat. Aber es kommt alles ganz anders, als man denkt, auch wenn Anna als Leiche endet.
Geschichte mit Romanpotenzial
Diese Schlüsselszene in der Erzählung «Picknick mit Anna» ist Teil des neuen Erzählbands «Abschiedsfarben» des deutschen Autors Bernhard Schlink. Die neun Geschichten kreisen um das «Adieu», das nicht nur ein Ende ist, sofern man Schlink glauben darf. Es ist vielmehr ein Aufbruch zu Neuem.
Der 76-jährige Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink kam 1995 mit seinem Bestseller «Der Vorleser» zu Weltruhm. Die vertrackte Liebesgeschichte handelt von einem Jugendlichen und einer mehr als 20 Jahre älteren Tramchauffeuse mit Nazi-Vergangenheit. In diesem Roman sowie in seinen anderen Schriften beschäftigt sich Bernhard Schlink mit den Widersprüchen zwischen Recht und Gerechtigkeit. Er zeigt unterschiedliche Sichtweisen auf, denn was rechtens ist, muss nicht gerecht sein. Diese Botschaft durchzieht auch die Erzählungen im Buch «Abschiedsfarben».
Typisch dafür ist die erste Geschichte «Künstliche Intelligenz». Der Ich-Erzähler, ein Mathematiker, berichtet von seiner engen Beziehung, die er mit seinem verstorbenen Freund Andreas hatte – zwei beste Freunde. Die beiden arbeiteten für wissenschaftliche Projekte in der DDR, bis Andreas eines Tages wegen versuchter Republikflucht der Prozess gemacht wird. Er kommt ein Jahr in den Knast und kann später wieder wissenschaftlich tätig sein in einem Institut unter der Leitung des Ich-Erzählers. Nach und nach erschliesst sich dem Leser, wie eng das Schicksal von Andreas mit dem Erzähler verknüpft ist. Die Auflösung sei nicht verraten. Sie ist so schmerzhaft, dass in dieser Männerfreundschaft selbst der Tod kein Abschied sein kann. Dieses Beziehungsdrama hat das erzählerische Potenzial zu einem grossen Roman.
Erzählung mit süsslich-schönem Abgang
Mitunter schrammen die Geschichten knapp am Kitsch vorbei. So geht «Die Geschwistermusik» selbst hartgesottenen Lesern ans Herz. Schlink berichtet von einer Dreiecksbeziehung zwischen den Geschwistern Susanne und Eduard sowie einem Musikwissenschafter. Sie ist eine flamboyante Karrierefrau; ihr Bruder sitzt seit einem Unfall in der Kindheit im Rollstuhl. Der Musikus verliebt sich in Susanne, findet aber nur über Eduard Zugang zu ihr. In der Folge entspinnt sich ein jahrelanges Beziehungsgeflecht mit einem süsslich-schönen Abschied, der eigentlich keiner ist.
Schlink hat diese wie alle anderen Erzählungen flüssig und elegant geschrieben. Er ist ein brillanter Erzähler, dem man als Leser auch gerne im kleinen Kreis lauschen möchte. Und er hat ein feines Gespür für atmosphärische Störungen im Zwischenmenschlichen, hinter denen sich mitunter wahre Dramen verbergen.
Buch
Bernhard Schlink
Abschiedsfarben
232 Seiten
(Diogenes 2020)