Das grosse Literaturjahr 1922 wird üblicherweise mit modernistischen Meilensteinen wie James Joyces «Ulysses» oder T. S. Eliots «The Waste Land» illustriert. Katherine Mansfields Erzählband «The Garden Party» aus dem gleichen Jahr ist ein weniger spektakuläres Buch, doch nicht minder epochal. Die damals 34-Jährige stand auf dem Höhepunkt ihrer Erzählkunst, wegen der Turberkulose allerdings auch am Ende ihres Lebens.
Die Neuseeländerin (1888– 1923) hatte sich schon früh aus dem bürgerlichen Elternhaus gelöst und in den Künstlerkreisen Europas Inspiration gesucht. Mit ihrer präzisen Ausdrucksweise und der raffinierten Art, die Figuren zu charakterisieren, gehört sie zu den Pionierinnen der modernen Short Story.
Mansfields Erzählungen sind meist arm an Handlungen. Im Zentrum stehen die Menschen mit ihren Gefühlen und ihrem individuellen Blick auf die Welt. Nicht selten sind es gesellschaftliche Randfiguren, auffällig oft Frauen und auch Kinder. Darüber hinaus ist Mansfield eine Meisterin der Gestimmtheiten, die wesentlich für den Charakter ihrer Erzählungen sind.
Entwicklungsprozess der Autorin wird sichtbar
Dass Mansfields subtile Kunst auch nach 100 Jahren überrascht und berührt, wenn sie treffend übersetzt ist, zeigt der Band «Die Gartenparty». Irma Wehrli hatte für den Manesse-Verlag bereits ein Buch mit Tagebucheinträgen der Autorin übersetzt.
Nun bringt sie den Lesern Mansfields liebenswürdige Charaktere nahe, etwa die empfindsame junge Laura aus der Titelgeschichte oder die alleinstehende ältere Miss Brill, die wohl einiges mit ihrer Schöpferin gemein hat: «Sie hatte eine wahre Meisterschaft darin entwickelt, fand sie, zuzuhören, als ob sie nicht zuhören würde, und für einen Augenblick in fremden Leben Platz zu nehmen.»
Der Band versammelt Erzählungen aus rund zehn Jahren und damit auch solche, in denen die Erzählerin noch an der Raffinesse der Charakterisierung arbeitet und die Pointen noch nicht die spätere Subtilität besitzen. Dies erlaubt dem Lesepublikum, Mansfields Entwicklungsprozess nachzuvollziehen und die Meistererzählungen von 1922 umso besser würdigen zu können.
Katherine Mansfield
Die Gartenparty – Short Storys
Aus dem Englischen von Irma Wehrli
544 Seiten (Manesse 2022)