Flink läuft Michael Fehr durch das Menschengewusel beim Zürcher Landesmuseum. Dass er sich auf unsicherem Grund bewegt, ist von aussen fast nicht sichtbar. Der Berner Schriftsteller und Musiker ist seit Geburt nahezu blind, sieht die Welt lediglich in Schemen und Farben. Mit seinem eigenen Sprachsound, seinen Geschichten, so bunt, archaisch und fantasievoll, wie man sie selten liest, hat er sich in der Literaturszene einen festen Platz erobert. In seinem vierten Buch «Hotel der Zuversicht» tummeln sich in surrealistischen Szenerien Seiltänzer und Polarforscher, Spioninnen und Räuber. Bei einem Treffen draussen in der Sonne erzählt er, wie seine Wahrnehmung der Welt seine Literatur beeinflusst.
kulturtipp: Oft wirken Ihre Kurzgeschichten in «Hotel der Zuversicht» wie schräge Träume, Albträume gar. Lassen Sie sich von Träumen inspirieren?
Michael Fehr: Ja natürlich! Im neuen Buch sind es in den meisten Fällen Traumbilder. Mich interessiert der transparente, dickichtlose, vorhanglose Zustand der Nacht. Ich habe oft die Nacht- und die ganz frühen Morgenstunden genutzt, um in diesem durchlässigen, sensitiven Zustand schreiben zu können.
Im Traum sind auch die Farben intensiver. In Ihren neuen Geschichten sind die Farben wie schon in den vorherigen Büchern ein wichtiger Bestandteil. Warum?
Ja, die Farben sind das Allerwichtigste: Als Literat will ich kräftige Bilder und Atmosphären wiedergeben. Wer von mir Literatur erwartet, wie sie in den letzten 100 Jahren gemacht wurde, wird enttäuscht. Ich will in meinen Geschichten nicht psychologisieren, das halte ich für einen grossen Irrtum. Meine Figuren sind Charaktere, sie sind nicht Menschen wie wir. Sie stehen für einzelne Empfindungen oder eben einzelne Farben – nicht für die volle Komplexität einer lebendigen Persönlichkeit. Sie werden aufeinander losgelassen, und man schaut, ob etwas Destruktives oder Prosperierendes dabei herauskommt. Mit meinen Fantasiebildern will ich zum progressiven Denken anregen.
Ihre Figuren erinnern an Märchen. Welche Bedeutung haben diese für Sie?
Märchen sind mir sehr nahe, besonders die aus anderen Kulturen und Traditionen: Während Grimm-Märchen Wert auf die Moral legen, sind etwa in asiatischen Märchen die Weisheit und die Spiritualität wichtiger.
Wie im Märchen gibt es auch in Ihren Geschichten beängstigende Bilder voller Gewalt. An allen Ecken lauert das Unerwartete. Dennoch enden viele Ihrer neuen Erzählungen wider Erwarten mit einem Hoffnungsschimmer. Etwa in der Geschichte «Kleines zweistöckiges Haus», in der eine Mutter ihre Tochter aus einem regelrechten Spukhaus rettet.
Man kann meine Geschichten sehr unterschiedlich lesen. Ich finde es schön, wenn man auch die Zuversicht darin sieht. Den meisten von uns passiert im Leben doch einmal etwas wirklich Schlimmes: Und was wünscht man sich dann mehr, als dass jemand mit Beil und Benzinkanister kommt und zum Rechten schaut – und man sich am Schluss einfach ins Auto setzen und davonfahren kann, wie in der Mutter-Tochter-Geschichte! Man kann mit verschiedenen Haltungen durch ein Abenteuer gehen. Entweder geht man davon aus, dass es sowieso schlecht kommt. Oder man hat Vertrauen und sagt sich: Da gehe ich jetzt einfach durch!
So wie in der Geschichte «Die Bedrohungslage», in der sich ein Paar aus dem sicheren Bunker hinauswagt und sich dem Leben mit all seinen Widernissen stellt.
Genau. Wenn wir immer alle in den Bunker rennen, sehe ich schwarz für die Welt. Durch meine Sehbehinderung kenne ich die Ohnmachtssituation. Das Gefühl vom «Geworfensein», dass alles zu einer Gefahr werden kann, ist für mich ein normaler Teil des Alltags. Meine Figuren finden den Ausweg aus ihrem Abenteuer oft nicht durch Rebellion oder besonders raffiniertes Verhalten, sondern durch die Änderung der inneren Haltung.
Ihre Erzählungen leben stark von Klang und Rhythmus, was bei Ihren Live-Performances besonders gut zum Ausdruck kommt. Wie wird die moderne Sprechoper aussehen, die Sie mit dem neuen Buch planen?
Zusammen mit dem Soundkünstler Janiv Oron habe ich überlegt, wie wir meine Geschichten in eine Farbe, einen Klang eintauchen und die Atmosphäre so verstärken können. Janiv kommt ursprünglich vom DJ-Handwerk, hat aber viel Erfahrung mit Opern; eine Form, die ich noch nicht so entdeckt habe. So sind nicht einzelne pulsierende Songs entstanden, sondern ein szenischer Verlauf. Die Musik soll nicht einfach Klangteppich im Hintergrund oder Intermezzo sein. Ich werde singen, es gibt clubbige Momente und solche mit wenig Spektakel, in denen ich erzähle. Die Performance ist ein Versuch einer Vermittlung meiner Geschichten – ein sich ständig weiterentwickelndes Wagnis!
Ihre Schreibtechnik funktioniert übers Ohr. Wie genau?
Meine Texte zeichne ich mit einem Handy-Tonaufnahmeprogramm auf. Diese Tondatei kann ich bearbeiten und mir auf den Computer schicken. Das Texten läuft also ganz im Kopf ab. Das ist für mich immer ein grosses Glücksgefühl. Ansonsten muss ich behutsam durch die Welt gehen, damit ich spüre, wie der Boden ist. Das Erfinden fühlt sich hingegen wahnsinnig frei an.
Buch-Performances
Michael Fehr und Janiv Oron
Do, 5.5., 20.00 Kaserne Basel
Mi, 11.5., 20.00 Rote Fabrik Zürich
Mi, 25.5., 19.30 Südpol Luzern
Weitere Tourneedaten: www.michaelfehr.ch
Buch
Michael Fehr
Hotel der Zuversicht
192 Seiten
(Der gesunde Menschenversand 2022)
Der Erzähler
Michael Fehr ist 1982 mit einer starken Sehbehinderung in Bern geboren. In seiner Jugend widmete er sich dem Malen und Schlagzeugspielen. Mit 20 fing er ein Wirtschafts- und Jurastudium an, um «ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft zu werden». Der Wechsel zum Literaturinstitut in Biel war «eine grosse Befreiung», wie er sagt. 2013 erschien sein erstes Buch «Kurz vor der Erlösung». Seither hat er zahlreiche Literaturauszeichnungen erhalten. 2018 entstand mit Manuel Troller das Bluesalbum «Im Schwarm». Das Erzählen und die Musik verbindet er auch mit dem Projekt «super light», mit dem er mit Rico Baumann auf Tournee ist. Im Kino ist demnächst «Lost in Paradise» zu sehen, für das Fehr die Filmmusik kreiert hat. Er ist mit Lesungen, Konzerten und Performances auf internationalen Bühnen unterwegs.