Die Liebe – ihr frönen die Dichter seit Jahrtausenden. Sie wird leidenschaftlich besungen und in Filmen mal mehr, mal weniger romantisch zelebriert. Ohne die Liebe kommt der Mensch nicht aus. Sie bereitet höchstes Glück und tiefsten Schmerz. Oder sie zeigt sich in alltäglichen Momenten, so wie in Annette Pehnts «Lexikon der Liebe».
Darin erzählt sie von Ein- und Zweisamen, von der verglühenden Liebe genauso wie vom Glück der ersten Begegnung. Die Freiburger Autorin beleuchtet aber nicht nur die Paar-Liebe, sondern weitet das Spektrum aus: Die Mutter-Liebe, die eine Tochter zu erdrücken droht. Die Liebe eines Mannes zu seinem Auto, an das so viele Erinnerungen geknüpft sind, und das er darum hingebungsvoll pflegt. Oder der Schmerz eines Kindes über sein geliebtes Stofftier, das bei einer Wanderung verloren gegangen ist.
Für ihre Kurzgeschichten wählt die 50-jährige Schriftstellerin eine besondere Form wie bereits in ihrem «Lexikon der Angst» (2013): Von A wie Ahnung bis zu Z wie Zittern buchstabiert sie die einzelnen Erzählungen durch. Die meisten Begriffe haben auf den ersten Blick nichts mit der Liebe gemein. Hinter dem Stichwort «Knie» verbirgt sich etwa die anrührende Geschichte eines alten Paares, das sich gegenseitig immer wieder vom ersten Treffen in London erzählt. Als der Mann vergesslich und etwas sonderlich wird, fragt er seine Frau mehrmals am Tag nach dieser Geschichte. Sie ist ein beruhigender Fixpunkt in seinem Leben, das durch seinen Erinnerungsschwund langsam die Konturen verliert. Das Knie kommt nur am Rande vor, als die Frau beschreibt, wie ihr Partner mit der Zeitung auf den Knien abwesend in die Ferne blickt.
Melancholie ist der Grundton von Annette Pehnts Miniaturen, die von tiefer Menschlichkeit geprägt sind. Meist beschreibt sie nicht die grossen Gefühle, wie sie etwa in Hollywood-Romanzen bis zum Pathos dargestellt werden. Sie schöpft ihre Geschichten vielmehr aus dem Alltag und sorgt für manchen Wiedererkennungseffekt.
Viel Raum für eigene Fantasie
Unter dem Stichwort «Richtig» erzählt sie etwa von einem Paar, das sich immer noch zugeneigt ist und etwas Besonderes unternehmen will: «Etwas, das uns ausmacht, nichts aus dem Katalog, etwas nur für uns beide», wie sie ihm sagt. Am Schluss lassen sie einen Drachen steigen, der im heftigen Wind bald abstürzt. Und er hofft, «dass es nun genug ist, und er hofft auch, dass sie den Garantieschein aufbewahrt hat, denn dieser Drachen ist Schrott». Mit diesem lakonischen Statement endet die Geschichte – wie es dem Paar in Zukunft ergeht, können sich die Leser selbst ausmalen. Pehnts Miniaturen lassen viel Raum für die eigene Fantasie.
4 Fragen an Annette Pehnt
«Der Zufall hat seine Finger im Spiel»
kulturtipp: Sie haben bereits ein «Lexikon der Angst» geschrieben, nun das »Lexikon der Liebe». Was reizt Sie an dieser Erzähl-Form?
Annette Pehnt: Sie hält eigene Möglichkeiten bereit: Konzentration, Begrenzung, Präzision, Andeutung, Leerstellen … Ich würde das Lexikon-Projekt gern ausweiten und mit diesen knappen Geschichten unsere Gegenwart nach und nach immer tiefer erforschen.
Wie wählen Sie die Stichworte aus? Meist ist ja nicht auf den ersten Blick ersichtlich, was etwa «Igel» oder «Yoghurt» mit der Liebe zu tun haben.
Das ist Absicht – ich wollte, dass die Leser eben gerade nicht nachschlagen können wie in einem Ratgeber oder einem echten Lexikon, sondern dass der Zufall seine Finger im Spiel hat. Bedingung war nur, dass jedes Stichwort in der Geschichte vorkommt. So bekommt das «Lexikon», das ja keines ist, auch etwas Spielerisches.
Die Liebe ist in der Literaturgeschichte ein wiederkehrendes Thema. Welche Facetten wollten Sie hinzufügen?
Es ist neben dem Tod das grösste Thema. Auch ein Grund, keinen klassischen Liebesroman zu schreiben, sondern eine eigene Form zu suchen. Ich wollte nicht die übliche Mann-Frau-Konstellation aufgreifen, sondern Liebe in all ihren Formen ausloten – zu Kindern, zur Sprache, zu Gott oder einem Hund. Liebe, die ausgeleiert ist oder müde geworden, brüchig oder gefährdet. Und doch immer wieder neu und unverwüstlich.
Ihre Kurzgeschichten sind von einem melancholischen Grundton geprägt. Sie verhandeln das ganz grosse Glück oder den ganz grossen Schmerz nur in wenigen Geschichten. Zeigt sich die Liebe am ehesten in Alltagsmomenten?
Ich wollte erzählen von Liebe, die wir ständig um uns und in uns haben – und das ist eben nur selten der ganz grosse erschütternde Moment. Unscheinbares Lieben und Leben sind genauso wert, erzählt zu werden!
Buch
Annette Pehnt
Lexikon der Liebe
192 Seiten
(Piper 2017).