«Will das jemand lesen? ich glaup nich.» Der zwölfjährige Najee erzählt mit eigenen Worten – falscher Rechtschreibung inklusive – seine traurige Geschichte, die, so nimmt er entmutigt gleich vorweg, ohnehin niemanden interessiert. Der Junge ist nur einer von mehreren Protagonisten, die in Sidik Fofanas Kurzgeschichtensammlung «Dünne Wände» in acht Erzählungen miteinander verbunden sind.
Was sie alle eint: ihr Alltag in der Wohnsiedlung Banneker Terrace in Harlem, einem Stadtviertel im Norden New Yorks. Sie alle kämpfen gegen die Gentrifizierung und die damit einhergehenden steigenden Mieten. Denn die neuen Besitzer wollen aus dem Hochhauskomplex Luxuswohnungen machen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auf die Mieterhöhungen die Räumungsbefehle folgen.
Menschen, die oft unsichtbar bleiben
Klug aufgebaut, schildert Sidik Fofana, der kreatives Schreiben an der New York University studiert und als Lehrer in Brooklyn arbeitet, die unterschiedlichen Schicksale der Bewohner. Einige von ihnen könnten durchaus einen ganzen Roman ausfüllen. Da ist zum Beispiel Michelle A. Sutton, genannt Mimi, aus Apartment 14D, eine alleinerziehende Mutter, die kellnert, nebenbei Haare flechtet und nicht weiss, wie sie das Geld für die nächste Miete aufbringen soll.
Einen Stock tiefer, in der 6B, wohnt ihr Ex, der Vater ihres Sohnes. Der 25-Jährige ist arbeitslos und hadert mit seiner Zukunft, während seine Mutter, Verona Dallas, knapp 50, sich als Schulbegleiterin und bei der Flughafen-Security aufreibt.
Kurzum: «Dünne Wände» erzählt von Menschen, die meisten schwarz, die an einem Ort wohnen, «den die anderen nur aus den Nachrichten kennen». Menschen, die im Alltag oft unsichtbar bleiben, die zwei Jobs haben und sich dennoch kaum das Nötigste leisten können. Fofana entpuppt sich, ähnlich wie der grosse New-York-Chronist Paul Auster, als genauer Beobachter. Seinen (Anti-)Helden gibt der Autor eine jeweils individuelle, stark umgangssprachlich gefärbte Stimme. Er wechselt die Tonalität und variiert die Diktion. Diese unterschiedlichen Erzählstimmen übersetzt der deutsche Musiker Jens Friebe weitgehend mühelos.
Gescheiterte Träume und enttäuschte Hoffnungen
Es sind mal schockierende Geschichten, wie die von Najee, aber auch tragikomische, wie die von Dary, der wegen seiner Popstar-Obsession ungewollt im Netz viral geht. Es geht um vernachlässigte Kinder und vereinsamte Kriegsveteranen, um gescheiterte Träume und enttäuschte Hoffnungen. Dabei wird Sidik Fofana nie pathetisch. Seine Figuren sind keine Opfer, sie sind fehlbar, gewitzt und kühn. Manche kämpfen um Zusammenhalt – und sie alle wollen ihre Würde bewahren.
Sidik Fofana
Dünne Wände
Aus dem Englischen von Jens Friebe
256 Seiten
(Claassen 2024)