Der Traum vom Ausbruch aus dem Alltagstrott, aus der festgelegten Rolle im Leben: Diese Sehnsucht treibt Peter Stamms Figuren immer wieder um. Auch die elf in den letzten Jahren entstandenen Geschichten im neuen Erzählband handeln meist von Einsamen, im Trott Gefangenen, die sich eine neue Identität erträumen oder sich selbst verlieren. So wie Georg, ein Mann mit einem sinnentleerten Job kurz vor der Pensionierung, in der Erzählung «Supermond». Zuerst sind es nur kleine Irritationen im Alltag: die Arbeitskollegen, die ihm im Lift davonfahren oder seine Frage nicht hören, oder seine Gattin, die ihn in der gemeinsamen Wohnung nicht mehr wahrnimmt, ihn quasi ignoriert. Doch nach und nach kippt die Erzählung ins Surreale, und es wird offensichtlich: Der stets unscheinbare Mann löst sich kurz vor seiner Pensionierung ganz auf, wird für die anderen unsichtbar – nicht nur im übertragenen Sinne.
Das Unheimliche lauert unter der Oberfläche
Diese Entfremdung von sich selbst und die Sehnsucht, von anderen wahrgenommen zu werden, erlebt auch eine junge Frau in der Erzählung «Sabrina, 2019». Sie steht für einen Künstler Modell, ist zunächst stolz, dass sie als Skulptur verewigt wird. Doch allmählich entwickelt sie zu ihrem Ebenbild aus Aluminium eine so starke Beziehung, dass sie sich fast nicht mehr von ihrem Klon trennen kann, sozusagen mit ihm verschmilzt. Ihr eigenes, echtes Leben fühlt sich leer an: «Es kam ihr vor, als nehme die Statue den Platz ein, der eigentlich ihr zustünde.»
Mit diesen zwei Geschichten gibt der 57-jährige Winterthurer Autor Peter Stamm den Takt vor für seinen neuen Band, in dem oft das Unheimliche unter der Oberfläche lauert. Wenigen Erzählungen wie etwa der allzu simplen Liebesgeschichte «Das schönste Kleid» fehlt diese Doppelbödigkeit. Aber meist gelingt es dem Schriftsteller in seiner schlichten, klaren Sprache hinabzuleuchten in Abgründe, die sich unvermittelt im Alltag auftun. So zeichnet er ein tiefenscharfes Bild des Unbehagens, das den Menschen überkommen kann.
Eine Wanderung wird zur Reise in die Vergangenheit
Den stärksten Sog entwickelt die titelgebende Geschichte «Wenn es dunkel wird»: Die Ich-Erzählerin ist eine Polizistin, die zurückgekehrt ist in das Tal ihrer Kindheit und hier mit einem alten Trauma konfrontiert wird. Ihr Bruder ist vor vielen Jahren auf der Alp, wo die Geschwister unbeschwerte Sommertage verbrachten, spurlos verschwunden. Als es nun im Tal heisst, dass sich eine Frau und zwei Kinder in der Alphütte verstecken und erfrieren könnten, will die Polizistin nachschauen, was es mit den Gerüchten auf sich hat. Die Wanderung zur Alp wird für sie zu einer Reise in die Vergangenheit. In der neblig-mystischen Karstlandschaft und der Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau verschwimmen Realität und Fantasie, bis die Vergangenheit überhandnimmt.
Buch
Peter Stamm
Wenn es dunkel wird
192 Seiten
(S. Fischer 2020)