Was machen Kinder im Krieg? Sie spielen Fussball, hören Musik und schwänzen die Schule. Dies alles aber intensiver als in Friedenszeiten, denn: «Krieg ist eher langweilig als traurig.» Dies sagt der Ich-Erzähler Tijan im Buch «Radio Sarajevo». Und weil die Hauptfigur identisch ist mit dem in Kaiserslautern lebenden Bosnier Tijan Sila, bezeichnet dieser sein Buch auch nicht als Roman. «Alles, was Sie gelesen haben, ist wirklich passiert», schreibt er am Schluss des Buchs.

Langzeitreportage aus Kindertagen

Sila, 1981 in Sarajevo geboren, legt so etwas wie eine Langzeitreportage aus Kindertagen vor, deren Beginn exakt zuzuordnen ist auf den Morgen des 5. April 1992. «Ich lag bäuchlings auf dem Schlafzimmerteppich und hörte Radio», erinnert sich Tijan Sila, damals elf Jahre alt. Gerade als David Bowie zu «Suffragette City» anhebt, lässt ein «metallisches Kreischen» das Haus schwanken.

Der Schrecken ist gross, die Überraschung weniger. Als sich die Bewohner des Plattenbaus im Vorort Cengic Vila im Keller treffen, fragt jemand verunsichert, was das alles zu bedeuten habe. «Was solls schon bedeuten?», meint Nachbarin Marija. «Der Krieg ist da.» Obwohl erwartet nach all den politischen Unruhen und Scharmützeln im zerbröckelnden Vielvölkerstaat Jugoslawien, bringt der Krieg einiges durcheinander, wie der kleine Tijan erzählt. Er verharmlost nicht, denn bald sterben Nachbarn, auch Kinder.

Vielmehr begegnet er den neuen Realitäten pragmatisch. Ihm und seinen Freunden Sean und Rafik fehlen bald Batterien für das Transistorradio, ohne das sie sich verloren fühlen. Weit mehr als die Verlautbarungen von «Radio Sarajevo» vermissen sie die Musik von Bon Jovi, Alice Cooper oder Kurt Cobain. Dann fehlen Süssigkeiten, schliesslich nahrhaftes Essen und Wasser. Doch: «Es gab auch andere Nöte als den Hunger.»

Als Kind zweier Akademiker, die weltfremd durch das Geschehen schlendern, ohne zu kämpfen oder zu «organisieren», wird Tijan von seinen Kumpels gemobbt und erst wieder ernst genommen, als seine Familie die Flucht nach Deutschland plant.

Ein Leben lang traumatisiert

Tijan Sila schafft es, seine Erinnerungen im Tonfall eines Elfjährigen niederzuschreiben. Mit jener glaubhaften Leichtigkeit, die das Leben aufkeimender Teenager prägt, die noch eher an Fussball denken als an Mädchen und in Ruinen gefundene Pornohefte bei Soldaten gegen Gummibärchen eintauschen.

Sie rennen in den täglich sich ändernden Labyrinthen zwischen Ruinen und Autowracks herum und machen ihre Suche nach Brennholz zum Abenteuer. Ihr Alltag aber ändert sich, als ihnen das erbeutete Holz von Warlords entrissen wird, als sich seltsame «Popcorngeräusche» als Salven von Scharfschützen entpuppen und plötzlich Soldaten mit blauen Helmen auftauchen. Was machen Kinder im Krieg? Sie werden innert Kürze erwachsen in einer Welt, in der Freunde zu Feinden werden und Menschen zu Bestien.

Auch wenn sie Fussball spielen und Musik hören, werden die Kinder traumatisiert. Und bleiben es ein Leben lang. Tijan Silas Buch sollte allgemeine Pflichtlektüre sein in einer Welt, die noch immer nicht ohne Kriege leben kann.

Buch
Tijan Sila

Radio Sarajevo
176 Seiten
(Hanser Berlin 2023)