Nichts hätte das Pariser Ballettpublikum mehr erschrecken können. Mitten im Ersten Weltkrieg ergötzte es sich an Werken der beliebten Bühnenkomponisten Léo Delibes oder Peter Tschaikowsky. Doch dann kam «Parade», ein revolutionäres Gemeinschaftswerk von Jean Cocteau (Libretto), Erik Satie (Musik) sowie Pablo Picasso (Bühnenbild und Figurinen).
Die von Ernest Ansermet geleitete Uraufführung mit den «Ballets Russes» artete am 18. Mai 1917 in einen handfesten Skandal aus. Saties radikal einfache Musiksprache mit ihrer Vorliebe für penetrante Tonwiederholungen war so ungewohnt wie die raffiniert hineinkomponierten Geräusche eines Lotterie-Rades, das Klappern einer Schreibmaschine oder verstörende Revolverschüsse.
Humorvoller Sonderling
Der eine knappe Viertelstunde dauernde Geniestreich weckte das Interesse der Dadaisten. Pianistische Miniaturen des avantgardistischen Aussenseiters erklangen 1919 an der 8. Dada-Soirée in Zürich, später auch in Paris. Saties künstlerische Grösse und seine Bedeutung für die moderne Musik erkannte aber erst der US-amerikanische Komponist John Cage. Seit dessen Satie-Festival von 1948 wird der humorvolle Sonderling weltweit als Wegbereiter wichtiger Stilrichtungen wahrgenommen.
Erik Satie, der mit den «Drei Stücken in Birnenform» ironisch auf Claude Debussys Vorwurf der Formlosigkeit reagierte, nahm nicht nur impressionistische Harmonien, die Neue Sachlichkeit oder die Minimal Music vorweg. Er schuf als Erster eine überzeugende Mischung von Klassik und U-Musik, lehnte traditionelle Formen strikt ab und experimentierte mit Akkordparallelen, Fremdzitaten und Tonrepetitionen. Nach seiner Vorschrift müssen die «Vexations» für Klavier 840 Mal gespielt werden. Zum Tango in den Miniaturen «Sport und Vergnügungen» schrieb Satie sogar «perpétuel» (fortwährend) vor.
Gallischer Esprit
Der 1866 in der Normandie geborene Künstler bewegte sich auch als geistvoller Schriftsteller zwischen Dadaismus und Surrealismus. Den gallischen Esprit seiner Klavierstücke «Appetit verderbender Choral» oder «Wirklich schlaffe Präludien (für einen Hund)» widerspiegelt sein legendärer «Tagesablauf eines Musikers» von 1913:
«Erspriesslicher Ausritt in den Tiefen meines Parks: von 13.19 bis 14.53. Erneute Inspiration: von 15.12 bis 16.07. Verschiedene Beschäftigungen (Fechten, Meditation, Reglosigkeit, Besuche, Betrachtungen, Geschicklichkeitsübungen, Schwimmen etc.): von 16.21 bis 18.47.»
In der Übersetzung von Evi Pillet sind 1980 Saties «Seltsame und ausgewählte Schriften» erschienen (Neuauflage 1998). Herausgegeben hat sie der Zürcher Pianist, Komponist und Pädagoge Werner Bärtschi, dem die späte Satie-Renaissance in der Schweiz zu verdanken ist. Der 66-jährige Bärtschi schaffte es vor mehr als 30 Jahren, die bedeutendsten Kulturinstitute der Limmatstadt zu einer Gesamtaufführung von Saties musikalischen Werken zu gewinnen. Auf zwei vergriffenen Schallplatten hielt er zudem als erster Schweizer Pianist Saties wichtigste Stücke von den «Gnossiennes» (1890) bis zu den kühlen «Cinq Nocturnes» (1919) aus dem klanglich herben Spätwerk fest.
Abendfüllende Satie-Konzerte haben immer noch Seltenheitswert. Zum Jubiläum steht nun seine «Parade» auf dem Programm der von Douglas Bostock geleiteten Argovia Philharmonic. In St. Gallen sind als spezielles Geburtstagsständchen die in typischer Satie-Manier ohne Taktstriche notierten «Vexations» zu hören. Mehrere Pianistinnen und Pianisten werden sich über eine Gesamtspieldauer von 28 Stunden ablösen (Infos siehe www.vexations.ch).
Rezital-Abend
In der Zürcher Tonhalle widmet Werner Bärtschi dem Jubilar einen mit Texten angereicherten Rezital-Abend. Von Erik Satie sind unter anderem eine Sarabande, ein Nocturne, der oben erwähnte Tango oder die «Sonatine bureaucratique», zu hören. Klavierwerke von Frédéric Chopin, Gabriel Fauré, Claude Debussy, Maurice Ravel und John Cage ergänzen das Programm.
Erik Satie
Erik Satie wurde am 17. Mai 1866 in Honfleur (Normandie) geboren. Er besuchte das Pariser Konservatorium, begann 1884 zu komponieren, brach das Studium ab. Ab 1887 war er Pianist im Cabaret Chat Noir am Montmartre. Bekanntheit erlangten seine Kompositionen ab 1911, als sie von Claude Debussy und Maurice Ravel aufgegriffen wurden. Bei seinem Tod am 1. Juli 1925 hinterliess Satie ein umfangreiches Werk, das auch Dichter und bildende Künstler bis heute inspiriert.
CD
Tout Satie!
Erik Satie
Complete Edition
(10 CDs, Erato 2015).
Buch
Erik Satie
«Seltsame und ausgewählte Schriften» Hrsg. von Werner Bärtschi
(Atlantis Musikbuch Verlag 1998).
Konzerte
Fr, 13.5., 19.30 Trafo Baden AG: Argovia Philharmonic spielt «Parade»
Mo, 16.5., 20.00 bis Di, 17.5., 24.00 Palace St. Gallen: «Vexations»
Fr, 20.5., 19.30 Tonhalle Zürich: Klavierrezital Werner Bärtschi