Er war mein Nachbar: Die ersten Jahre schräg gegenüber an der Zürcher Englischviertelstrasse, damals noch neben der rustikalen Kneipe Flora; die letzten Jahre auf der andern Seite, der Kasinostrasse. Dort steht das Märchenhaus mit Garten, das verwunschene Zwergenhaus, die Schreibstube von Urs Widmer. Nachts, wenn ich vorbeiging, um welche Zeit auch immer, brannte Licht. Wahrscheinlich schrieb der Schriftsteller noch … eine Geschichte, einen Roman oder ein Drama. Alles blieb ruhig, nur der Fuchs mit buschigem Schwanz kreuzte, wie so oft, die Strasse. Es bedeutet zu Hause zu sein, wenn man weiss, dass die Nachbarn schon da sind.
Urs Widmer war meistens da, lebte im Quartier, schritt die Querstrassen gemessenen Schrittes ab in seinen langen Mänteln, halb Rattenfänger, halb Zampano, die Hände im Rücken verschränkt, den Blick in die Weite. Er konnte irritieren, verängstigen in seiner vorübergehenden Weltabgewandtheit. Ab und zu aber brauste er auch in einem Personenwagen vorbei, der nicht zu ihm passte. Urs Widmer war der Spaziergänger des Englischviertels. Ich bin fast sicher, er hatte mit seinem Blick jedes Haus und jeden Garten vermessen. Das war sein Revier, da gehörte er hin.
Meine erste Begegnung mit dem Schriftsteller Urs Widmer fand Anfang der 80er-Jahre im Theater Neumarkt statt, wo sein Endzeitdrama «Nepal» Uraufführung hatte. Zwei Männer, Hans und Heinz, irrten über die Bühne und durchs Leben, kamen in Berührung mit einem beängstigenden Überwachungssystem. «Nepal» diente als Utopie einer sehr fernen Freiheit. Dieses Dialekt-Theater zwischen Absurdität und Schrecken faszinierte mich unerhört: Das Thema war zwar ernsthaft, aber wir Zuschauer haben uns trotzdem köstlich amüsiert. Es war radikal gedacht – kaum einer hat es bemerkt. Er machte mich mit einer Welt bekannt, die ich erst ein paar Jahre später richtig begreifen sollte. Es folgten seine Stücke «Jeanmaire» und «Top Dogs», mit denen mir Urs Widmer seine Theaterwelt eröffnete. Und politisch einiges erklärte.
Als Herausgeber der Literaturzeitschrift «Die Affenschaukel» versuchte ich ihn beharrlich zu einem Beitrag zu bewegen. Er aber war mit seinen Texten so vorsichtig und zurückhaltend wie eine Entenmutter. Dafür wies er mich auf einige seiner und anderer «Minidramen» hin, die uns als Grundlage zu zwei unvergesslichen Matinees im Theater Neumarkt dienten. Der Schalk in die kurze Form verpackt, das entsprach unserem Lebensgefühl: Was will / der wilde / wilde Reiter / hei wei / hei wei / hei weiter will / der wilde Reiter / O wilder Reiter / reit o reit / reit weg und weit / Sei mir gut / und tötet mich / nicht in deiner Wut
Widmer in Prosa entdeckte ich ein paar Jahre später in seinen «Schweizer Geschichten». Diese gefielen mir, weil da einer humorvoll und poetisch über dieses Land schreiben konnte, trotzdem kritisch und politisch war. Widmers Erzählesprit durchbrach elegant das Analytische der 70er-Jahre, diesen weitverbreiteten Neorealismus. Anfang der 90er erschien «Der blaue Siphon», ein Roman, den alle im Freundeskreis lasen. Es war sein literarischer Durchbruch: Er stürmte die Bestsellerlisten. Von da an gabs das Gefühl, einen prominenten Nachbarn zu haben. Und plötzlich fielen mir die blauen Siphons in den verschiedensten Haushaltungen auf. Widmer setzte Trends – obwohl er das so nicht gesagt hätte.
Jahre später, 2013, fragte ich Urs Widmer an, ob er die Eröffnungsrede bei «Zürich liest» halten wolle. Er sagte spontan zu, liess allerdings durchblicken, dass er mit seinen Kräften vorsichtig umgehen müsse. Ein einziges Vorbereitungsgespräch reichte ihm: Es mache ihm Freude, seine «Bücherstadt» zu ehren. Inzwischen erschien sein Roman «Reise an den Rand des Universums» – Urs Widmer war wiederum in allen Medien. Hundertmal hatte er Fragen zu seiner Vergangenheit zu beantworten, nur wenn es um seine Zukunft ging, blieb er auffällig vage und unbestimmt. An einem Donnerstagabend hielt er dann im Kaufleuten seine berührende Rede: «Zürich liest – dies ist eine wunderbare Vorstellung, eine lesende Stadt.» Eine Liebeserklärung an die Bücher und die Stadt: «Es bleibt, dass es Bücher gibt, die einem notwendig vorkommen, und andere, bei denen man am Ende einer Seite vergessen hat, was man eben gelesen hat. Das Elend ist, dass man es erst merkt, wenn man das Buch gekauft hat. Es steht nicht auf dem Umschlag – ‹Achtung! Mit den Füssen geschrieben!› Und so gehen wir Leserinnen und Leser viele Umwege. Aber Sie wissen ja, der Weg ist das Ziel, und Umwege gehören zum Gehen.»
Vor ein paar Wochen, ich war gerade mit ein Freunden auf dem Weg zur Tramstation am Hottingerplatz, begegnete ich Urs Widmer ein letztes Mal. Er sah aus wie ein zu gross geratener Zwerg mit einer Zipfelmütze weit ins Gesicht gezogen. Wir waren in Eile, und so wechselten wir nur wenige Worte: Es gehe ihm jetzt wieder besser, er erinnere sich gerne an diesen Abend bei «Zürich liest». Nach dieser kurzen Begegnung war ich glücklich.
Von Freunden hörte ich ein paar Tage später, dass es ihm gesundheitlich wieder deutlich schlechter gehe. … Durchs Radio habe ich es an einem frühen Morgen vernommen – Urs Widmer ist gestorben.
Er wird mir fehlen, mein Nachbar.
Markus Wieser ist Vielleser, Verlagsvertreter, Präsident des Zürcher Buchhändler- und Verlegervereins und Programmleiter des Literaturfestivals «Zürich liest». www.zuerich-liest.ch