Unruhe im Oberhalbstein: Mitten in einer Frühsommer-Nacht winden sich lange Tieflader durch die engen Dorfkerne, beladen mit 12 Tonnen schweren, sperrigen Bau-Elementen. Millimeterarbeit der Chauffeure im Scheinwerferlicht und ihrer Helfer, die diese seltsamen Fragmente hoch zum Julierpass auf 2284 Metern über Meer transportieren. Dort oben baut Giovanni Netzer, Theatermann aus Savognin, Hans Reinhart-Ring-Träger, Kopf und Gründer des Festivals «Origen» («Ursprung»), einen Turm. Ein eleganter, zehnzackiger Stern soll es werden, ein Holz-Gebilde mit Pfeilern und Arkaden, das ein wenig an das Castel del Monte erinnert, das apulische Jagdschloss Kaiser Friedrichs II.
Der 30 Meter hohe und knallrote Turm wird diesen Sommer zur temporären Theaterspielstätte für 300 Besucher und Kulisse für das Oratorium «Apocalypse» des Bündner Komponisten Gion Antoni Derungs. Dieses hat Netzer schon 2005 zur Uraufführung gebracht, nun zeigt er es in erweiterter und vertikal vergrösserter Form.
Regen und Schnee trotzend
Bereits 2010 hatte «Origen» in der kargen Julier-Landschaft aus Alpenvegetation und Geröll einen Pavillon gebaut, ausgerüstet für das Gipfeltreffen von König Salomon mit der mythischen Königin von Saba. Auch 2016 stand hier ein Turm, fünfeckig und golden als der Natur abgerungenes Zeugnis von Zivilisation und Kultur, hell strahlend im Licht freundlicher Sonnentage, trotzend den Wettern mit Regen und Schnee. Immer entstanden diese Bauten auf Zeit: Auch der aktuelle rote Turm muss 2020 wieder weichen, aber bis dahin will ihm Netzer auch die Wintertage abtrotzen und etwa die Weihnachtsgeschichte mit ungewohnten Facetten erzählen.
Stimmungsvolle Kraftorte
Giovanni Netzers temporäre Theatergebäude standen auch schon am Silsersee im Engadiner Talboden – strahlend weiss damals mit Blick in die über dem Malojapass untergehende Sonne. Dem Menschen in der historisch überhöhten Figur König Karls des Grossen hat Netzer damals nachgespürt, wie er sich in seinen Projekten gerne von grossen historischen oder biblischen Gestalten inspirieren lässt. Und wenn es kein provisorischer Theaterbau sein kann, dann spielt Netzer in seinem «eigenen» Festival-Turm in Riom. In jener Burgruine aus dem 13. Jahrhundert, die eher wie eine trotzige Kirche aussieht und von der nur die Umfassungsmauern noch stehen, was einen vielseitig nutzbaren, erstaunlich mächtigen Theater-Raum ergibt.
Aber es muss nicht immer gross sein für Giovanni Netzer. Die uralten Kirchen von Mistail (karolingisch) oder Rhäzüns (romanisch) dienen zu nächtlichen Stunden als stimmungsvolle Kraftorte für die Aufführung gregorianischer Choräle. Die Inszenierungen von «Origen» touren durch die Aulen und Mehrzweckhallen oder über Dorfplätze und Waldlichtungen des Kantons Graubünden. Auch die Rhätische Bahn auf ihrer Albula-Paradelinie war schon Schauplatz einer fahrenden Inszenierung von Giovanni Netzer: «Inferno» im offenen Aussichtswagen über Viadukte und hinein in stockdunkle Tunnels. Oder die Staumauer des Marmorera-Sees, passend für Noah und die Sintflut. Oder der Zürcher Hauptbahnhof, wo Netzer die Krönungsfeier des babylonischen Königs Nebukadnezar nachstellte.
Neues Leben in alten Strukturen
Es geht dem 1967 geborenen Theatermann Netzer mit seinem 2005 gegründeten Kulturfestival um Tradition und Erneuerung, um neues Leben in alten Strukturen, um das Wertvolle im Überlieferten und dessen Gehalt für eine Welt von heute. Der studierte Theologe ist ein Prediger des Autochthonen, ein Brückenbauer zwischen der kleinen gefährdeten Welt des Rätoromanischen und der Globalisierung. Und immer steht die Frage im Raum: Welchen Menschen bildet die Gegenwart, und was kann Theater dazu beitragen? Netzers Inszenierungen haben etwas zutiefst Katholisches: Es sind Prozessionen in gemessenem Schreiten, in Gewändern von reinen Farben und einfachen Schnitten, ein Bewegen in klaren Strukturen und Formen. Selbst dann, wenn er Choreografen einlädt, zu seinen Inszenierungen beizutragen oder eigene Arbeiten zu zeigen.
Rätoromanische Avantgarde
«Origen»-Stücke umfassen auch fast immer Musik. Ganz alte wie die gregorianischen Gesänge der mittelalterlichen Kirche oder die Vokalpolyphonie der Renaissance. Oft aber auch ganz neue wie etwa eine elektronische «Messias»-Oper von Oliver Weber. Oder eben das szenische Oratorium «Apocalypse» des 82-jährigen Bündner Komponisten Gion Antoni Derungs, der als musikalisches Aushängeschild der rätoromanischen Avantgarde gilt. Über 400 Werke umfasst sein Œuvre, in allen Sparten und Gattungen hat er gearbeitet. Seine «Apocalypse» erzählt in drei Sprachen – Romanisch, Deutsch und Latein – vom Untergang der Welt.
Derungs braucht dafür kein grosses Orchester. Ein Sprecher nur und sechs Gesangsstimmen interpretieren die Texte, die Giovanni Netzer selber aus der Apokalypse des Johannes destilliert hat. Für die neuen Dimensionen des Julierturms hat der Dirigent Clau Scherrer die Besetzungen verdreifacht. In nachtschwarzen Gewändern von Martin Leuthold mit Motiven aus den Apokalypse-Stichen von Albrecht Dürer agieren die Sänger auf der an Stahlseilen aufgehängten Theaterplattform im roten Turm und schlüpfen in die Rollen des Endzeit-Dramas: Die apokalyptischen Reiter, die Hure Babylon, Satan höchstselbst, dem der Prozess gemacht wird und der von den Erzengeln in den brennenden Schwefelsee geworfen wird, bis am Ende der erzählende Seher den Glanz und Frieden im himmlischen Jerusalem beschwört.
Auch die Politik hat die Ausstrahlung dieses Ortes erkannt: Am 31. Juli hat Bundesrat Alain Berset hier seine 1.-August-Rede gehalten.
Apocalypse
Bis Di, 15.8., Julierpass GR
www.origen.ch
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