Wir wohnen am Zürichberg. Das soll nicht falsche Assoziationen wecken. Bekanntlich hat jeder Berg verschiedene Seiten, steile und flache, sonnige und schattige. Die unsere wäre jetzt also die schattige. Obwohl, der Zürichberg ist ein Winzling unter den Bergen, ein Moränenhügel eigentlich, der kaum Schatten wirft. Schatten spendet der Wald, durch den wir wandern in diesen heissen Tagen. «Waldbaden» nennen wir das, kühle Luft, Kies unter den Sohlen, den Ruf eines Buchfinks im Ohr, das feine Pochen des Spechts.
Stille umweht die Fichten, Buchen, Lärchen. Im Frühsommer haben wir am Wegrand Holunderblüten gesammelt, den Sirup mischen wir mit Weisswein zum «Hugo». Zu Zeiten der Pandemie war der Zürichberg unsere Insel der Seligen – und er ist es bis heute geblieben. Vom Haus aus geht der Weg über eine Weide, durch den Friedhof und hinauf zur Ziegelhöhe. Hier wird an schönen Wochenenden ein multikulturelles Grillfest gefeiert. Ost und West friedlich vereint bei Spanferkel, Wurst und Bier. Zwischen den spielenden Kindern stolziert der zahme Storch umher, lässt sich füttern. Das Leben könnte doch so leicht und schön sein.
Hochbetrieb auch im Garten des Restaurants Ziegelhütte, Landbeiz-Gefühl am Rand der Stadt. Wer ein paar Schritte geht, kann die alten Gruben entdecken, aus deren Lehm bis Ende des 19. Jahrhunderts Ziegel gebrannt worden sind. Alteingesessene erinnern sich ans Kasperlitheater am Genossenschaftstag in der Trinkhalle beim Restaurant, an Sonntagsspaziergänge mit der Familie.
Man sass auf Holzbänken an langen Tischen, der Vater trank sein Bier, Mutter und Kind Orangina. Vielleicht gabs ein Restbrot, den Zvieri des Proletariats. Übrigens, ich nenne unsere Seite des Zürichbergs die proletarische. Hier lebten und leben Bauern, Arbeiter und Angestellte, heute Menschen aus allen Kulturen. Aber schreiten wir doch weiter durch den lichten Wald und durch die Geschichte. Zur Pandemiezeit habe ich einen «historischen Rundgang Zürichberg» kreiert und aufs Netz gestellt.
Russische und österreichische Armeen haben hier gegen die Franzosen zwei Schlachten geschlagen, im bösen Jahr 1799. Von den Tausenden von Toten ruhen wohl noch einige Gebeine unter dem Moospolster des Waldbodens, samt Säbeln und Flinten. Denken wir daran, überkommt uns leises Schaudern. Franzosenweg, Batteriestrasse, die Namen erinnern an jenen Sommer und Herbst des Hungers und der Gewalt.
Dem französischen General André Masséna, dessen Truppen durch eine List die Gegner in die Flucht schlugen, ist eine Waldstrasse gewidmet. Und das, obwohl er eine Besatzungsarmee kommandierte und als einer der übelsten Plünderer der Napoleonischen Kriege galt. Ob das vom Verschönerungsverein gestiftete, mit Kanonenkugeln dekorierte Schlachtendenkmal den Zürichberg wirklich verschönert, ist Ansichtssache. Aus der Zeit gefallen scheint auch das Gedicht auf der Bronzetafel:
Der Vater sagts dem Sohn, und dieser dann Ermahnt den Enkel; Knabe, werde Mann. Unterzeichnet ist es mit den Initialen NvE. Ein Rätsel also. Kurzer Abstecher zum Hanslinstein, Gedenken an einen Schweizer General, Korpskommandant Adolf Hanslin, gestorben «in Ausübung seiner Pflicht», wie auf der Bronzetafel steht. Ich war Korporal bei den «Blauen» in jenen Manövern, als er mit dem Helikopter abstürzte. Daran erinnere ich mich immer, wenn wir zum Hanslinweg kommen, der früher Schattengasse hiess.
Vielleicht, weil er von der Schattenseite auf die Sonnenseite des Zürichbergs führt. Weiter wandern wir über die Höhe gegen Osten, da und dort lehmigen Bikespuren ausweichend, bis zu einem bemoosten Findling mit der Tafel «Escherhöhe, 675 m ü. M. Höchster Punkt des Zürichberges». Ein Gipfel, der eigentlich keiner ist. Immerhin trägt er einen Namen, aber was bedeutet er?
Welchem der berühmten Zürcher namens Escher mag diese Höhe gewidmet sein? Dem Bankenkönig Alfred, dem Escher von der Linth, dem Geologen Arnold oder dem Gründer der Maschinenfabrik Escher-Wyss? Nein, kein alter weisser Mann wird hier geehrt, sondern eine Frau! Die fast vergessene Dichterin Nanny von Escher (1855–1932), Tochter eines Obersten, die mit ihrer Mutter in einem Chalet auf dem Albis lebte, schwärmerische Briefe und Gedichte verfasste, in der Stadt einen literarischen Salon führte und lebenslang unverheiratet blieb.
Damit wäre auch das Rätsel der Initialen NvE gelöst. Unsere Spaziergänge am und über den Zürichberg führen durch ein Labyrinth von Wegen und Wegspuren, in dem wir uns gelegentlich verirren. Über lauschige Lichtungen mit Waldhütten schreiten wir, wandern durch sagenumwobene Schluchten mit schroffen Abhängen, entdecken versteckte Weiher und Lagerplätze von Waldkindergärten mit Hütten und Feuerstellen. Den Grenzstein zwischen den ehemaligen Gemeinden Schwamendingen, Fluntern und Oberstrass haben wir selber einmal von Moos befreit.
Unser Hausberg ist eine Welt für sich, eine Insel im urbanen Raum voller Geheimnisse, Geschichte und Überraschungen. Es kann passieren, dass auf einer Waldstrasse eine Karawane von Kamelen leise und würdevoll vorüberzieht mit ihren stummen Begleitern. Sodass man sich fragt: Wo bin ich eigentlich? Wohin streben diese Wesen aus fernen Welten? Fata Morgana am Zürichberg?
Einmal stossen wir oberhalb des Resiweihers auf eine Gruppe von seltsamen Skulpturen, teilweise begehbar, gefügt aus trockenem Astwerk. Die akribische Arbeit eines LandArt-Künsters in der Tradition des Briten Andy Goldsworthy. Müssen wir in die Stadt, nehmen wir oft den Weg zu Fuss über den Berg. Wenn wir beim Orelli-Brunnen aus dem Wald treten, sind wir jedesmal ergriffen vom weiten Bogen der blauen Berge in der Ferne. Glärnisch, Tödi, Windgällen.
Es ist ein Augenblick der Sehnsucht, der Erinnerungen. Am Abend dieses heissen Tages sitzen wir auf dem Balkon, geniessen einen «Hugo», während die Sonne hinter die Wohnblöcke sinkt. Eine Herde Grauvieh weidet am Abhang gegenüber. Kühle Luft streicht von den Wäldern des Zürichbergs herab und verliert sich in den grünen Anlagen der Gartenstadt.
Zur Person
Emil Zopfi (* 1943) studierte Elektrotechnik, arbeitete als Entwicklungsingenieur, Informatiker und Erwachsenenbildner. 1977 erschien der Roman «Jede Minute kostet 33 Franken». Seither hat er Romane, Hörspiele, Kinderbücher, Bergkrimis und Bergmonografien verfasst sowie Reportagen, Kurzgeschichten und Kolumnen. Für seine Werke wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Im Oktober erscheint im AS Verlag «Victors letzte Fahrt – Alpinist und Luftschiffer aus Leidenschaft». Emil Zopfi lebt mit seiner Frau im zürcherischen Schwamendingen.
www.zopfi.ch