Glück und Liebi chame nöd erzwinge.
Aber ab und zu es Blüemli chamer bringe.
Und wänn de Radio kaputt isch, chamer singe.
Vor allem z’Schwamedinge!
Baby Jail (Schweizer Pop-Rock-Band)
Wir wohnen in Schwamendingen. Jetzt den-ken Sie wohl: Wie kann man nur dort hinter dem Zürichberg leben, wo selbst viele Stadtzürcher nie hinkommen. Höchstens mal in die Wirtschaft Ziegelhütte, zu Brunch oder Bio-Fleisch from nose to tail. Wir wohnen gleich unterhalb, beim Obstgarten mit den Apfelbäumen, unter denen Hochlandrinder weiden.
Vielleicht war es ein Zeichen, damals am Rhein. Fünf Jahre alt war ich. Ein Floss trieb vorbei, darauf Männer in Uniformen, Blasinstrumente blinkten in der Sonne. Eine Fahne wehte: «Harmonie Schwamendingen». Heute höre ich die Harmonie, wenn sie auf der Strasse bei unserem Wohnblock fürs Sechseläuten übt, jetzt auch mit Frauen, die Noten vorn auf den Trompeten und Klarinetten.
Nicht Musik hat mich nach Schwamendingen geführt, es war Vorsehung – wenn es so etwas gibt – oder dann Zufall. Gewiss aber die Liebe. Wenn ich aus einem Fenster unserer Wohnung schaue, sehe ich die kleine Kirche St. Niklaus aus dem Jahr 1674. Meine Frau wurde dort getauft. Es war ein Sommertag, ich stelle mir vor, es sei jener gewesen, an dem ich am Rhein die Harmonie Schwamendingen sah. Geheiratet haben wir vor 50 Jahren in der Schwamendinger Saatlen Kirche. Dann schrieb das Leben weite Umwege, die nicht nach Rom führten, sondern zurück zu den Wurzeln.
Einige Monate habe ich in Londons East End gelebt, vieles erinnerte mich an Schwamendingen – Zürichs East End. Beides waren Bauerndörfer vor den Toren der Stadt, dann Arbeiter- und Immigrantenquartier mit Menschen aus aller Welt, die friedlich nebeneinander und miteinander leben. Der Flohmarkt Flosch auf dem Schwamendingerplatz gleicht dem Brick Lane Market im East End, wo man sich für wenig Geld mit Kleidern, Schuhen, Geschirr, Möbeln, Spielsachen und Büchern eindecken kann.
Der Platz, so unscheinbar und weitläufig, steht für mich als Symbol für das Leben im Quartier. Tram und Bus, Autos und Velos, Fussgänger, Rollstühle und Rollatoren bewegen sich scheinbar chaotisch, aber fast konfliktfrei durcheinander. Ein Beispiel moderner städtischer Verkehrsplanung, heisst es. Die Götterbäume stammen aus dem Fernen Osten, Migranten also, wie viele Menschen hier. Ein friedlicher Ort jedenfalls, ein Beispiel von Toleranz. Halb East End, halb mediterrane Piazza. Vor dem Coop unterhalten sich pensionierte Heimwehitaliener, Muslime aus dem Balkan versammeln sich beim Gebetsraum, biertrinkende Obdach- und Heimatlose besetzen ihre Bänklein, Mütter schieben Kinderwagen zum Wasserspiel, und die lokalen Schönen eilen ins «Hair and Nail»-Studio. Alle finden ihre kleine Oase am Platz. Auch die Frauen und Männer vor dem Alterswohnheim Kull – unter ihnen still und verträumt Clemens Mettler, einst ein bekannter Schriftsteller.
Im Migros-Café trifft sich die Generation, die sich noch erinnert, wie der Milchmann mit dem Handwagen durch die Siedlungen zog. In einer Ecke geniesst der Quartierpolizist und Krimiautor Peter Mathys seinen Morgenkaffee. Draussen verkauft Roma aus Eritrea das Strassenmagazin «Surprise», erkundigt sich nach unserer Enkelin. Der Schuhmacher Mario Carlucci, in dessen Laden es nach Leder und Leim riecht, repariert unsere Berg- und Tanzschuhe. In seinem Schaufenster steht das Buch «Vorstadt Avantgarde» der in Berlin lebenden Schweizer Autorin Susann Sitzler – eine Hommage an Schwamendingen.
Der zweifelhafte Ruf des Quartiers beruht auf Vorurteilen, die der Kabarettist Viktor Giacobbo mit seiner Lachnummer Harry Hasler schweizweit verbreitet hat. Doch viele Schwamendinger, vor allem die Alteingesessenen, beseelt ein heimlicher Stolz, genauso wie Londons East Ender. Nicht überall ist Idylle, doch lebt das Quartier wie kaum ein anderes der Stadt. Einige der 50 Vereine liefern sich an der Schwamendinger Chilbi im Herbst einen kulinarischen Wettstreit mit Braten, Raclette, Fleischspiessen und Apfelküchlein. Im Frühling vereint das Festival Mosaik die Kulturen mit Musik, Liedern, Tanz und Speisen aus Äthiopien, Sri Lanka, Südamerika, der Türkei und anderen Ländern – und aus dem Quartier.
Die Buchhandlung Bücher-Treff, mitbegründet vom Autor und Ethnologen Nikolaus Wyss, ist leider verschwunden. Doch der 1988 gegründete Verein der Bücherfreunde organisiert weiterhin literarische Lesungen in der Pestalozzibibliothek. Musik aller Stilrichtungen bieten die Konzerte des Kulturclubs SchwamEdinge im gleichnamigen Restaurant. Als letzthin eine Band mit griechischer Musik auftrat, konnte sich eine Frau aus der Heimat des Sirtaki nicht mehr halten, andere schlossen sich an und selbst die türkische Wirtin tanzte mit.
Im Migros-Café treffen wir Freunde, die mit meiner Frau in einer der ersten Genossenschaftssiedlungen aufgewachsen sind. Die kleinen Doppelhäuser im Unterried sind längst durch Wohnblocks ersetzt, der Name der Strasse ist verschwunden. Doch die Unterriedler treffen sich regelmässig, erzählen mit glänzenden Augen Anekdoten aus ihrer Jugend. Das Quartier ist im Umbruch, wird erneuert, verdichtet, gentrifiziert, die Autobahn «eingehaust». Die Fotografin Ruth Erdt dokumentiert im Auftrag der Stadt die Entwicklung – es sind Bilder von Verlust, von Wehmut, aber auch von heiterem Optimismus. Sie erzählen, wie Menschen in einer sich wandelnden Welt leben und überleben.
Wir haben in Städten im Ausland gelebt, in Bergdörfern, in einigen Quartieren der Stadt Zürich. In Schwamendingen hat sich ein Kreis geschlossen, eine glückliche Fügung. Oder doch Zufall.
Emil Zopfi
Der Autor ist 1943 im Zürcher Oberland geboren. Er hat Elektrotechnik in Winterthur studiert und als Computeringenieur gearbeitet. Emil Zopfi ist passionierter Bergsteiger und hat mehrere Romane, Hörspiele, Kinderbücher, Krimis sowie Bergmonografien publiziert. Zuletzt ist von ihm der autobiografische Porträtband «Menschen am Weg – Begegnungen» im Rotpunktverlag erschienen.
www.zopfi.ch