Superman ist tot. Er wurde an einem sonnigen Novembermorgen in einem Altkleidercontainer einige Kilometer nördlich von Los Angeles gefunden. Kopfüber steckte er in der Tonne, seine hageren, leblosen Beine ragten in die Luft. Das ist nur wenige Wochen her. Was habe ich an jenem Morgen gemacht? So genau weiss ich es nicht mehr. Für mich war es ein Tag wie jeder andere. Ich werde aufgestanden sein, werde einen Kaffee gemacht und die Morgensonne Südkaliforniens genossen haben. Während die Polizei den Körper Supermans aus dem Container hievte, werde ich wohl den Computer angeschaltet und so getan haben, als würde ich arbeiten, bis ich dann irgendwann in einen Flow gekommen bin. Superman – der mit bürgerlichem Namen Christopher Dennis hiess – wird etwa zu dieser Zeit mit einem hellweissen Van in die Leichenhalle nach Downtown gebracht worden sein, in der Nähe von Chinatown. Vor der Leichenhalle steht ein digitales Schild mit den Worten «Carpe Diem»: Eine freundliche Erinnerung von denen, die es wissen müssen. Einem Comic-Helden muss man das nicht erst sagen, Superman hat den Tag immer genutzt.
Auch Chris Dennis hat sein Leben kompromisslos gelebt, und ich habe ihn dafür bewundert. In den Comics ist Superman unverwundbar, unsterblich, jeder kennt ihn. Aber der Mann, dessen Leiche an jenem sonnigen Novembermorgen in dem Altkleidercontainer gefunden wurde, war schnell wieder vergessen. Chris Dennis, Jahrgang 1967, ist nach Los Angeles gekommen, um nicht mehr Chris Dennis sein zu müssen. Er wollte lieber Superman sein. Auf den Strassen Hollywoods konnte er diesen Traum auf seine Art verwirklichen. Und jetzt ist er tot. Er ist am Leben zerbrochen, und an den Drogen. Ich kann seine Verzweiflung verstehen, ebenso wie ich seine Liebe zu Superman verstehen kann. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, habe ich mich an Fasching auch einmal als Superman verkleidet. Ich war ein dickliches, schüchternes Kind, das Superman-Kostüm passte nicht zu mir. Die anderen haben mich ausgelacht. Weinend bin ich wieder nach Hause gegangen. Nein, ich würde nie so sein wie Superman – ich würde nie besonnen, tapfer und beliebt sein, stark und selbstbewusst. Was macht Superman eigentlich zu Superman? Es sind, glaube ich, nicht seine Superkräfte. Es ist sein Herz. Sein Anstand. Superman setzt sich immer für die Schwächeren ein. Ich bin für so etwas viel zu konfliktscheu. Doch Superman ist im wahrsten Sinne des Wortes der nietzscheanische Übermensch, und es ist kein Zufall, dass diese Heldenfigur das Licht der Welt in den späten Dreissigerjahren erblickte. Auch in Nazi-Deutschland glaubte man an den Übermenschen, aber an den falschen. Erfunden wurde Superman von Jerry Siegel und Joe Shuster, zwei jüdischen Sonderlingen, Kindern von Einwanderern, die in der Mehrheitsgesellschaft keinen rechten Anschluss fanden. Auf seinem Heimatplaneten Krypton hiess Superman eigentlich Kal-El, eine Wortschöpfung aus dem Hebräischen. Er ist ein Flüchtling, musste seine sterbende Welt verlassen. Jerry Siegel erfand die Figur, nachdem sein Vater bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen war. Mit Superman verarbeiteten Siegel und Shuster ihre Traumata. Echte Menschen sterben, aber Superman nicht. Kugeln prallen an seiner Brust ab. Bis er dann doch gestorben ist. Zumindest sein Plagiat ist gestorben, aber was bedeutet schon ein Plagiat in Hollywood, wo das Künstliche das einzig Wahre ist?
Christopher Dennis war nur fünf Jahre älter als ich, aber gegen Ende sah er aus wie ein Greis. Das Superman-Kostüm, das er trug, hing lose von seinen hageren Gliedmassen herab. Über 15 Jahr lang flanierte er in dem Outfit auf dem Hollywood Boulevard auf und ab. Als er noch jünger war, und noch nicht von den Drogen gezeichnet, sah er tatsächlich aus wie der Schauspieler aus den frühen Superman-Filmen. Jeder in Hollywood kannte ihn. Wenn er mit flatterndem Cape die Strasse entlangging, grüssten ihn alle. Er nutzte sein Aussehen und sein Kostüm, um sich gegen Geld von Touristen vor den Sehenswürdigkeiten Hollywoods abfotografieren zu lassen. Selfies waren sein Lebensunterhalt, er wurde selbst zur Sehenswürdigkeit. Stundenlang stand er auf dem Boulevard, bei jedem Wetter, besonders im Sommer, in der Gluthitze, sein blaues Kostüm schweissbefleckt. So habe ich ihn kennengelernt, habe einen Artikel über ihn geschrieben. Er hat sich mir geöffnet, hat mich an seinem Leben teilhaben lassen. Dann haben wir den Kontakt verloren. Zum einen, weil der Artikel fertig war, ich brauchte ihn nicht mehr. Dafür schäme ich mich. Aber auch, weil er irgendwann nicht mehr er selbst war. Er wurde mehr und mehr zerfressen von Eitelkeit und Unsicherheit. Kein Wunder, dass er sich nur im Kostüm stark fühlte. Bloss reichte ihm das irgendwann nicht mehr. In seiner völlig zugemüllten Wohnung fanden sich nicht nur alle erdenklichen Fanartikel, sondern Gras, später auch Speed. «Das ist mein Kryptonit», sagte er mal zu mir, den Satz habe ich nie vergessen. Er flog aus seiner Wohnung raus, seine Frau verliess ihn. Da hatten wir schon keinen Kontakt mehr, ich habe davon nach seinem Tod in der Zeitung gelesen. Irgendwann wurde er zusammengeschlagen und beraubt – die Diebe zwangen ihn, sein Kostüm auszuziehen, rannten damit weg. Das war für ihn der Anfang vom Ende.
Als er starb, war er obdachlos. Einer von Tausenden. Offensichtlich war er in den Altkleidercontainer geklettert, weil er Klamotten brauchte. Ich muss immer wieder an ihn denken. Auf dem Hollywood Boulevard geht das Leben weiter, auch ohne Superman. Die Sonne brennt vom Himmel, die Touristen schieben und schwitzen, die Kameras klicken, bei Nacht leuchten die Neonschilder, und immerzu rollt der Rubel. Es gibt andere, die sich gegen Geld in irgendwelchen Kostümen fotografieren lassen. Es gibt andere Möchtegern-Helden, aber es gab nur einen Superman. Sein Tod macht mir Angst. Wären nur wenige Dinge bei mir anders gelaufen, hätte das auch ich sein können, in dem Altkleidercontainer. Aber es war Chris Dennis, und er hinterlässt eine Leere. Mit dem Tod jedes Träumers sterben auch dessen Träume, und es fehlen am Nachthimmel einige Sterne, fern und unbemerkt.
Emanuel Bergmann
1972 in Saarbrücken geboren, ist Emanuel Bergmann nach dem Abitur nach Los Angeles ausgewandert. Er hat dort Film und Journalismus studiert und war viele Jahre für Filmstudios, Produktionsfirmen und Verlage tätig. Heute unterrichtet er Deutsch in Los Angeles, übersetzt Bücher und schreibt Artikel für diverse Medien. 2016 ist sein tragikomischer Roman «Der Trick» bei Diogenes erschienen.