Am Anfang war «Die Häschenschule», Verse von Albert Sixtus, Bilder von Fritz Koch-Gotha. Es ist das erste Buch, das ich allein gelesen habe, und die Verse sind banal, die Bilder sind im Grunde scheusslich – schon das Titelbild zeigt den Macho-Oberlehrer Lampe, selbstbewusst mit Bauch und Uhrkette, und vor ihm steht klein, klein-gemacht der Hasenhans und wird an den Ohren gezogen. Aber es ist ein Klassiker der Kinderliteratur, und wer es als Kind gelesen hat, vergisst es nie. Denn genau so war sie, unsere Jugend in den 50er-Jahren: Mutter sorgte im Haus für Ordnung, in der Schule haute einem der Lehrer auf die Pfoten, und im Feld, sprich in der Stadt, lauerten die Gefahren. «Wär’ ich nicht ein Kindelein, möcht’ ich gleich ein Häschen sein!», so endet dieses Buch, und das waren wir: arme kleine Häschen, durch die Wiederaufbaujahre gezerrt als störende Klötze am Bein.
Wir hatten wenig Geld, ich lieh mir Kinderbücher in der Gemeindebibliothek aus und schwebte auf wunderbaren Flügeln aus meinem Elternhaus hinaus und über die Dächer davon, mit Nils Holgersson und den Wildgänsen übers Meer, mit Agba und seinem Pferd nach Arabien, mit dem kleinen Häwelmann zum Mond. All diese Geschichten haben ja einen doppelten Boden, den man als Kind noch nicht begreift: es ist lustig zu lesen, wie Pinocchios Nase immer wächst, wenn er lügt. Später wissen wir: Ein Mensch, der lügt, ist ein bis zur Unkenntlichkeit sich verändernder Mensch – welch starkes Bild hat Carlo Collodi dafür gefunden! Das weiss man aber erst mit 30. Oder «Alice im Wunderland» – gibt es ein skurrileres, verrückteres (Kinder-)Buch als dieses? Wo jemand nach Belieben gross und klein wird, in einem See aus seinen eigenen Tränen schwimmt? In dieser Geschichte ist nichts logisch, nichts vernünftig, alles purzelt in Unsinnseinfällen durcheinander. Die Texte der Dadaisten machen nach dieser Kinderlektüre später keine Mühe!
Mir halfen solche Bücher, wegzutauchen aus dem Alltag, aus Enge und Armut, aus der zerbombten Stadt und der Qual der Schule. Wir beide waren eine enge Allianz, in die niemand einbrechen konnte – mein Buch und ich. Was wäre in diesen unglücklichen Jahren des Heranwachsens ohne meine Bücher aus mir geworden? Aus jeder Geschichte tauchte ich, wie Walter Benjamin so schön sagt, über und über mit Wörtern beschneit hervor.
Die Volksmärchen der Gebrüder Grimm sind wegen ihrer Grausamkeit verpönt. Aber für Kinder sind Bestrafungen nur die, die sie selbst kennen, Schlimmeres malt sich ihre Fantasie nicht aus. Und dass alle Königssöhne und Köhlerskinder Prüfungen über sich ergehen lassen müssen, um den rechten Weg zu finden oder erlöst zu werden, ist ein Motiv, dem das Kind sehr gut folgen kann. Fast immer siegt in den Märchen doch das Gute, sehr oft sind sprechende Tiere Helfer und Ratgeber. Und wer wären wir denn, wüssten wir nicht von Falladas Leid, wie er da hanget, vom Rumpelstilzchen, das sich vor Wut mitten entzweireisst, vom Rotkäppchen, vom schlafenden Dornröschen! Diese Figuren gehören auch zum Bildungskanon.
Oder die berauschenden Märchen aus 1001 Nacht, in denen es Wesire und Kalife, verschleierte Haremsdamen und Lampengeister gab, eine völlig fremde Welt, da flogen Teppiche durch die Gegend und Berge öffneten sich und Dämonen spielten eine grosse Rolle. Es war die erste Begegnung mit einem andern, grossen Teil der Welt und daher ganz wichtig für ein lesendes Kind. Wenn wir später Homer oder Dante lesen können, haben wir hier die erste mühelose Vorübung dazu gehabt.
Dem Dänen Hans Christian Andersen verdanke ich meine intensivsten Leseerlebnisse, bei ihm lernte ich, dass Tiere fühlen und sprechen können und dass das Hässliche nicht hässlich, sondern Teil des Ganzen und daher schön ist. «Das Leben ist das schönste Märchen», hat der scheue, einsame Mann geschrieben. Bei uns zu Hause war es wie im Palast der Schneekönigin: «Hier gab es keine Fröhlichkeit. Mitten in diesem riesigen leeren Schneesaal war ein zugefrorener See. Er war in tausend Stücke zerbrochen, aber jedes Stück glich dem anderen so sehr, dass es ein richtiges Kunstwerk war. Genau in der Mitte sass die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie immer, dass sie im Spiegel des Verstandes sitze und der sei der einzige und beste auf der Welt.»
Genau in der Mitte unserer Küche sass meine bitter gewordene Mutter, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie, ich solle mich auf meinen Verstand verlassen, denn Gefühle seien Schnickschnack und ich sähe ja an meinem Vater, wohin das führe. Alles lebt in Andersens Geschichten, der Sonnenstrahl, die Möbel, der Zinnsoldat. Der Dichter sitzt am Fenster und lauscht den Störchen und den Schwalben, er kennt die Liebessehnsucht der Nixen und die Tränen des hässlichen Entleins, er ist immer aufseiten der Schwachen, wobei die Schwachen durchaus auch die Kaiser sein können: die Nachtigall singt den kranken Kaiser von China gesund und erzählt ihm in ihren Liedern, was in seinem Land vor sich geht, und so kann er seinem Volk ein guter Kaiser sein. Andersen hat mich gelehrt, dass der Tod, der Kummer, das Böse zum Leben dazugehören, und er hat mich gelehrt, auf die Stimmen der Tiere zu hören, ihm und Hugh Loftings Dr. Dolittle verdanke ich den wichtigsten Schatz meiner Herzensbildung.
Das Lesen wurde mir immer mehr zum Dialog mit mir selbst, ich versuchte, mich und meine Träume, Sehnsüchte, Erwartungen besser kennenzulernen. Aber Literatur hat immer auch eine unterwandernde Wirkung – sie trägt uns weg aus dem Gewohnten und stellt es infrage.
Genau das wurde mein Problem: Je mehr ich las, desto weniger fügte ich mich in meine Umgebung, desto mehr entfernte ich mich von der Familie, galt nun erst recht als das schwierige Kind. Zuerst hatte mich das Lesen gnädig von der Welt abgekapselt, dann hatte es mir die Welt erklärt, und nun wollte ich in «meiner» Welt so nicht mehr leben. Dieses eigene Leben wurde mir auf der Folie der Bücher unerträglich, und ich wusste:
Es gibt kein Zurück in das alte Leben. Bücher haben mir den Weg hinaus gezeigt, haben mich getröstet, aber auch einsam gemacht. Das ist der Preis, der für das Lesen zu zahlen ist.
Elke Heidenreich
Die Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Kabarettistin Elke Heidenreich (*1943) wuchs in Essen als Tochter eines Mechanikers und einer Näherin auf. Mit 15 Jahren verliess sie ihr Elternhaus, um beim Pfarrer, der sie konfirmiert hatte, und seiner Frau zu leben. Sie hat Germanistik studiert und danach viele Jahre bei Radio und Fernsehen als Autorin und Moderatorin gearbeitet. Unter anderem wurde sie durch die ZDF-Literatursendung «Lesen!» bekannt. Seit 2012 ist sie in der Kritikerrunde im SRF-«Literaturclub» zu sehen. Elke Heidenreich lebt in Köln.