Salz, Kardamomkaffee, Wassermelonen, Ziegeneintopf, Holzöfen, Erde, Schwefelsäure, Single Malt Whisky: Das sind einige der Gerüche und Geschmäcker, an die sich Leila erinnert, als sie ihr Leben Revue passieren lässt. «Tequila Leila», wie ihre Freunde sie nennen, liegt ermordet in einer Mülltonne am Stadtrand von Istanbul. In den zehn Minuten und 38 Sekunden nach ihrem klinischen Tod, in dem das Gehirn laut Wissenschaftern noch aktiv sein kann, ziehen die Schlüsselmomente ihres Lebens an ihr vorbei.
Ein Leben in drei Teilen: Geist – Körper – Seele
Anhand dieser ungewöhnlichen Ausgangslage rollt Elif Shafak das Leben der Prostituierten Leila und ihrer fünf Freunde auf, die sie durch alle Hochs und Tiefs begleiteten. Die türkische Schriftstellerin gliedert ihren Roman in drei Teile: Geist – Körper – Seele. Teil eins widmet sich Leilas Erinnerungen. Im zweiten Teil beschreibt die Autorin die irrwitzige Odyssee von Leilas Weggefährten, die versuchen, ihr eine friedliche letzte Ruhestätte zu verschaffen: Leila, die von ihrer ostanatolischen Familie verstossen worden war, ist auf dem «Friedhof der Geächteten» gelandet. Ihre Freunde setzen alles daran, sie von dort wegzubringen. Im kurzen dritten Teil entflieht die Seele ihrem Körper.
Aussenseitern einen Namen geben
Elif Shafak erzählt diese Geschichte mit viel Tragikomik und Empathie. Die Idee zum Roman kam ihr, als sie den real existierenden «Friedhof der Geächteten» in Istanbul besuchte. Hier liegen etwa Prostituierte, an Aids Verstorbene, Transgender-Sexarbeiter, Selbstmörder, ausgesetzte Babys und Flüchtlinge, die in der Adria oder im Schwarzen Meer ertrunken sind. «Es ist ein Ort, der Menschen in Nummern verwandelt. Ich wollte einer dieser Nummern einen Namen und eine Geschichte geben», sagte die Schriftstellerin in einem Interview mit der NZZ.
Auch Leilas Freunde gehören zu den Aussenseitern der Gesellschaft: Die transexuelle Prostituierte Nalan, die kleinwüchsige Zaynab aus dem Libanon, die somalische Prostituierte Jamila, die Nachtclubsängerin Humeyra, die vor ihrem gewalttätigen Mann aus Syrien geflohen ist, und schliesslich Sinan, Leilas Seelenverwandter aus Kindertagen, der ihr nach Istanbul gefolgt ist. Sie alle haben ihre Ersatzfamilie in der Freundschaft gefunden. Für Leila sind die fünf ihr «Sicherheitsnetz»: «Wenn sie stolperte oder fiel, standen sie bereit und fingen sie auf oder milderten die Wucht des Aufpralls. In Nächten, in denen sie von einem Freier misshandelt wurde, gab ihr das Wissen, dass ihre Freunde mit Salbe für die Kratzer und Blutergüsse kommen würden, die Kraft, nicht zusammenzubrechen.»
Elif Shafak hat sich in der Türkei aufgrund ihrer Bisexualität selbst als Aussenseiterin gefühlt, als Tochter einer Diplomatin ist sie aber in einem internationalen Umfeld aufgewachsen. Seit zehn Jahren lebt sie nun mit ihrem Mann und zwei Kindern in London. Die 47-Jährige zählt zu den meistgelesenen Autorinnen der Gegenwartsliteratur, ihre Werke wurden in über 50 Sprachen übersetzt. Ihre Bücher und Kommentare, in denen sie sich kritisch zu Frauenrechten und den politischen Verhältnissen in der Türkei äussert, stehen im Erdogan-Regime unter scharfer Beobachtung, die Autorin selbst ist starken Anfeindungen ausgesetzt. «Wenn sich ein Land rückwärts entwickelt und in Ultranationalismus, religiösen Fanatismus und Autoritarismus hineinstolpert, dann steigen parallel dazu Sexismus und Homophobie an», ist sie überzeugt. Gerade darum seien Bücher in Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt, besonders wichtig.
Ein Hoch auf das Anderssein
Ihr Roman «Unerhörte Stimmen» ist ein Plädoyer für die Menschlichkeit, für Toleranz –und ein Hoch auf das Anderssein. Die packende Geschichte verknüpft Shafak mit einem Sittenbild der Bewohner der Millionenmetropole Istanbul, dieser «schizophrenen Stadt», wo alles nebeneinander besteht: «das Alte und das Neue, das Reale und das Surreale», Aberglaube und Moderne, rigide Moral und Aufgeschlossenheit.
Buch
Elif Shafak
Unerhörte Stimmen
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
432 Seiten
(Kein & Aber 2019)