Elaine Sturtevant - Das Double macht das Original zur Kunst
Die 82-jährige US-amerikanische Künstlerin Elaine Sturtevant ist vieles: Avantgardistin, Rebellin und vor allem eine Wiederholungstäterin zeitgenössischer Kunst. Die Kunsthalle Zürich widmet ihr jetzt eine Ausstellung.
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Kulturtipp 24/2012
Rolf Hürzeler
Die Geschichte ist fast zu schön, um wahr zu sein. Als der US-amerikanische Künstler Andy Warhol gefragt wurde, wie er seine legendären Blumenbilder geschaffen habe, sagte er: «Ich weiss es nicht so genau, fragen Sie doch die Sturtevant.» Denn sie hatte seine «Flowers» fachgerecht, Schritt für Schritt, reproduziert. Warhol war von der Idee angetan und lieh seiner Kollegin Elaine Sturtevant angeblich sogar die Drucksiebe für die Nachahmung ...
Die Geschichte ist fast zu schön, um wahr zu sein. Als der US-amerikanische Künstler Andy Warhol gefragt wurde, wie er seine legendären Blumenbilder geschaffen habe, sagte er: «Ich weiss es nicht so genau, fragen Sie doch die Sturtevant.» Denn sie hatte seine «Flowers» fachgerecht, Schritt für Schritt, reproduziert. Warhol war von der Idee angetan und lieh seiner Kollegin Elaine Sturtevant angeblich sogar die Drucksiebe für die Nachahmung seiner Blumen.
Die Autodidaktin
Wahr oder nicht, zumindest erzählt der kalifornische Kunstexperte Bruce Hainley die Anekdote im Magazin «Frieze». Sie bringt die Arbeit der in Paris lebenden Künstlerin Sturtevant auf den Punkt: Sie wiederholt den ganzen kreativen Prozess eines Kunstwerks peinlich genau, bis es vom Original kaum mehr zu unterscheiden ist. Auf den ersten Blick ist das zwar befremdlich, aber nicht sinnlos: Die 82-Jährige will damit ein Kunstwerk grundlegend verständlich machen. Sie legt all das offen, was unter der sichtbaren Oberfläche ist. Kein Wunder, dass ein Künstler wie Andy Warhol sich vor ihrer Arbeit verbeugt.
Die Zürcher Kunsthalle zeigt nun unter dem Titel «Image Over Image» Sturtevants Wiederholungen von Werken, die Künstler wie Jasper Johns, Beuys oder eben Warhol geschaffen hatten. Zudem sind spektakuläre Videoinstallationen zu sehen, denen Sturtevant sich in der jüngeren Zeit zugewandt hat. Und Provokationen der andern Art: Etwa die Sex-Plastikpuppen, die zu allerhand verschrobenen Fantasien anregen.
Die Avantgardistin musste lange Zeit und immer wieder um Anerkennung kämpfen. In ihrer Laufbahn schlug ihr vor allem Misstrauen und Unverständnis entgegen. Zumal sie eine Autodidaktin ist. In einem Interview mit dem Fernsehsender arte sagt sie freimütig: «Ich hatte keine Ausbildung, schon gar keine künstlerische.»
Elaine Sturtevant kam in Ohio zur Welt und begann mit 35 Jahren Kunstwerke zu reproduzieren, zuerst vor allem Werke von Warhol oder Roy Lichtenstein. Später kamen Künstler wie Joseph Beuys und Marcel Duchamp dazu. Sie entdeckte das Potenzial einzelner Künstler, zum Teil lange bevor sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt waren.
In den 60ern stiess Sturtevant mit ihren Reproduktionen auf Begeisterung. Wie die betroffenen Künstler applaudierte die Kritik Sturtevants radikale Arbeiten zuerst enthusiastisch – als humorvolle Parodie auf den Kunstbetrieb. Denn die Idee, einem originalen Werk ein zweites kopiertes hinzuzufügen, erschien in den 60ern zu absurd, um ernst genommen zu werden.
Doch die Stimmung kippte schnell nach dem anfänglichen Pläsier: Als Sturtevant die Installation «The Store» von Claes Oldenburg wiederholte, war es vorbei mit dem Spass. Die Kunstkritik empfand in diesem Fall die Kopie als ein Sakrileg; Häme ergoss sich über die Künstlerin.
«Akt des Widerstands»
Sturtevant fühlte sich missverstanden und verabschiedete sich in der Folge für mehr als zehn Jahre von der Öffentlichkeit. Francis Herrgott, Direktor des Pariser Museums für moderne Kunst, erklärt das Missverstehen von Sturtevants Schaffen so: «Sie verweigert den Kunstwerken die bürgerliche Ehrfurcht, aber sie bringt ihnen Respekt entgegen.» Denn für Aussteller Herrgott ist Sturtevant vor allem eine politische Künstlerin: «Sie hebt den Eigentumsbegriff auf.» Was sich reproduzieren lässt, gehört dem Besitzer nicht mehr exklusiv. Und die französische Kuratorin Stéphanie Moison doppelt nach: «Diese Werke sind ein Akt des Widerstands.» Was vielerorts nicht verstanden wurde oder nicht verstanden werden wollte.
Ist Sturtevant gar eine politische Feministin? Immerhin reproduziert sie keine Werke von Künstlerinnen. Zwar wehrt sie sich vehement gegen diese Etikette und kichert dazu wie ein Teenager. Trotzdem liegt der Gedanke zumindest nahe, dass eine Frau den künstlerischen Werken von Männern die nötige Tiefe verleihen muss, in dem sie die gesamte Arbeit noch einmal erledigt – in einer weiblichen Variante.
Die Unverstandene verliess die USA verbittert, zog nach Paris – wo sie ebenfalls wenig Anerkennung fand. Erst 2003 schaffte sie den internationalen Durchbruch, Udo Kittelmann vom Museum für Moderne Kunst in Frankfurt lud sie zu einer grossen Einzelausstellung ein – und feierte einen Erfolg. Seither gehört die subversive Künstlerin zum Establishment.
Bleibt offen, ob sie deshalb tatsächlich verstanden wird. Der deutsche Kunstwissenschaftler Tilman Osterwold sagt über Sturtevant: «Vielleicht ist alles falsch, was je über sie geschrieben wurde. Genau das könnte ja ihre Strategie sein …» Wahrscheinlich ist diese Einschätzung ziemlich zutreffend.