Ich wohnte eine Weile schon im Auto. Es sah darin etwa so aus wie in einem engen, unaufgeräumten Zimmer. Kleider und ein Badetuch hingen an einer kurzen Schnur zum Trocknen oder Auslüften. Nahrungsmittel lagen auf dem Beifahrersitz, Decken, Kerzen, Bücher auf dem Rücksitz, Holzkohle und Schuhe auf dem Boden. Einen Liegestuhl hatte ich, den ich allerdings Lesestuhl nannte. Zudem eine Gaslaterne, Landeskarten, Tannzapfen und Wein.
Auch heute Abend hatte ich in einem stillen Tal am Strassenrand parkiert, war mit meinen Sachen ein paar Schritte über Gras gegangen, einen Hügel hoch, hatte an einem Waldrand einige Steine zusammengetragen, ein Feuer gemacht und ein Gitter in die Glut gestellt. Darüber legte ich etwas Alufolie und grillierte Fisch und eine Gurke und ass beides mit Olivenöl und Salz. Dazu trank ich Wein aus einer Flasche. Die Luft war nicht mehr mild, es würde eine kühle, aber nicht eisige Nacht werden. Niemand hätte da behaupten können, ich wüsste nicht, wie es mir gut gehen zu lassen.
Nach dem Essen sass ich ruhig auf einem Stein und schaute zu, wie erst das Tal und dann der Himmel langsam dunkler wurden. Ich legte etwas Holz nach, hüllte mich in meinen Schlafsack, setzte mich noch näher ans Feuer, schaute die Sterne an und hörte der Stille zu. Hin und wieder war ein Geräusch zu hören, von einem Tier vielleicht, aber nicht oft. Und einmal fuhr eine Sternschnuppe über fast den ganzen Himmel. Sie glühte so lange und weit, dass ich beinahe Zeit gehabt hätte, ihr eine Frage zu stellen. Aber ich behielt die Frage für mich, so wie es sich für gewisse Dinge eben ziemt. Und nach einer Weile war ich über dieser Frage ganz klein geworden. Und ich bemerkte, dass ich zusammengekauert da sass.
Wie viele Arten es doch gibt, zu sitzen, dachte ich. Das stolze Sitzen, das heitere Sitzen. Und dass wohl jede Gefühlslage eine Art zu sitzen hervorbringt. Und darüber fiel mir wieder ein, wie meine Verlobte einmal dagesessen war. Mir gegenüber, in einem Lehnstuhl, sehr früh am Morgen, in einer Aufnahmestelle für psychiatrische Notfälle, gegen Ende also. Eine dritte Person war anwesend. Man könnte sagen eine Fachperson. Bei ihr hatte ich für sie um Aufnahme gebeten, genauer für uns beide. Für eine Nacht. Und ich hörte die Person sagen, der Zustand meiner Verlobten sei zu ernst für diese Institution, man könne die Verantwortung für sie nicht übernehmen.
Ich habe diese Antwort nie wirklich angezweifelt. Ich finde auch, die Verantwortung ist zu Recht bei mir geblieben. Und doch weiss ich bis heute nicht, was sie eigentlich bedeutet hat. Die Person redete noch weiter. Nur hörte ich nicht mehr zu. Denn ich schaute die Person nicht an. Stattdessen schaute ich meine Verlobte an, wie sie mir schweigend gegenübersass. Und sich mit einer Hand an den Kopf und in die kurzen Haare griff, auf eine verzweifelte, aber dennoch weiche Art. Ganz langsam. Und ihre Hand dort oben blieb, wie um noch einmal nach etwas zu tasten, was schon verloren war. Und die Hand irgendwann wieder herunterkam, ebenso langsam, und bei der andern liegen blieb, die auf ihrem Schoss lag. Während ihr Blick so aussah, als hätte er noch etwas schwach erfasst, das zwischen ihr und mir im Raum hing. Und die Augen, aus denen dieser Blick kam, traurig waren, aber noch ein wenig strahlten, als wäre es einfach nur sehr spät am Abend. So getroffen war ich von dem Anblick, dass ich gleichzeitig vor Angst und Liebe zitterte. Es war mir, als hätte sie in diesen Augenblicken und über dieser Antwort ihre letzte Hoffnung aufgegeben.
Und auch wenn es ungehörig war, mir kam El loco in den Sinn. Es gibt eine kleine Zeichnung von Picasso. Sie heisst El loco. Und sie zeigt einen Verrückten, wie er schmächtig auf dem Boden sitzt, verloren und in grosser Not. Und trotzdem ist in seinem Gesicht noch Freundlichkeit. Vielleicht, weil ein kleiner Hund noch bei ihm liegt. Er schläft ruhig auf seinem Schoss. Ich würde sagen, der Hund liegt dort, weil er vertraut. Und weil er durch den Wahnsinn seines Herrn mit Mühelosigkeit hindurchsieht. Auf das Eigentliche.
Seit ich diese Zeichnung als Kind in einer Ausstellung gesehen hatte, mochte ich sie gern. Ich weiss nichts mehr sonst von dieser Ausstellung, ausser dass sie Picassos Frühwerk zeigte. Ich ging zwar durch die andern Räume. Aber immer wieder kam ich zu der Zeichnung, um sie noch einmal zu sehen. Bis mein Vater sagte, es sei Zeit zu gehen. Und als wir zusammen weggingen, fragte ich ihn, ob man diese Zeichnung kaufen könne, und wenn ja, ob ich sie vielleicht haben könnte. Er wusste es nicht mit Sicherheit zu sagen. Meinte, dass sie wahrscheinlich jemandem gehöre, vielleicht sogar einem andern Museum, und hier nur leihweise zu sehen sei. Und dass, wenn sie auch zu kaufen wäre, sie doch so unbezahlbar teuer sein müsste, dass wir es uns nicht leisten könnten, sie zu haben. Also nahm ich mir vor, falls ich je viel Geld besitzen sollte, ich versuchen würde, diese Zeichnung zu ersteigern. El loco. Und nach all den Jahren – ich hatte gar nicht ständig, nicht einmal sehr oft, aber immer wieder mal an sie gedacht – sass ich meiner Verlobten gegenüber, zu einem der letzten Male. Und sie war El loco geworden. Sie sah so aus wie die Gestalt in dieser Zeichnung. Verloren und in grosser Not. Und trotzdem noch mit Freundlichkeit. Und so hatte ich die Zeichnung, die ich immer haben wollte, plötzlich bei mir. Zu einem schlimmen Preis. Und seit damals möchte ich sie nicht mehr haben.
Jens Nielsen
Jens Nielsen wurde 1966 in Aarau geboren. Während der Schauspielausbildung in Zürich begann er zu schreiben. Seither arbeitet er als freier Schauspieler, Sprecher und Autor. Zuletzt produzierte Radio SRF 2 Kultur sein Hörspiel «Frau Higgins – Anstelle von Erinnerung». Sein neuster Kurzgeschichten-Band «Flusspferd im Frauenbad» erschien jüngst im Verlag Der gesunde Menschenversand.
Jens Nielsen an den Solothurner Literaturtagen:
Kurzlesung: Sa, 7.5., 17.00
Aussenpodium Klosterplatz
Late Night mit anderen Autoren: Sa, 7.5., 21.30 Kreuz-Bar
Lesung:
So, 8.5., 16.00 Stadttheater
Radio-Morgenkolumnen:
Mo, 9.5.–Fr, 13.5., täglich 06.10
Radio SRF 2 Kultur