Der französische Fotograf Gaspard-Félix Tournachon (1820– 1910) hatte eine glänzende Idee. Nadar, wie ihn alle nannten, brachte seine Fotoausrüstung in den Korb eines Heissluftballons. Er war der Überzeugung, damit lasse sich die aufwendige Landvermessung vereinfachen. Weit gefehlt, denn Ballonfahrten sind zu unstabil. Dafür entstand etwas viel Besseres: die Luftaufnahme. Die Menschen konnten nun jede Stadt aus der Vogelperspektive sehen. Julian Barnes berichtet von Nadars Errungenschaft in seinem soeben erschienenen Bändchen «Lebensstufen», das in drei Abschnitte unterteilt ist.
Untreuer Ehemann
Für Barnes liegt die Leistung des Fotografen Nadar darin, dass er als erster zwei Dinge zusammenbrachte – den Ballon und die Kamera – und daraus die Luftaufnahme schuf. Dabei verherrlicht er Nadar keineswegs: «Niemand hat ihm je vorgeworfen, er lasse sich von der Vernunft leiten.» Und: «Er war ein Ehemann von der Art, bei dem Seitensprünge in friedlicher Koexistenz mit treuer Gattenliebe einhergehen …» Nadar liess sich am liebsten von Hormonen leiten.
In den beiden anderen Teilen bleibt Barnes dem Thema treu, dass zwei gegensätzliche Phänomene allenfalls etwas Neues entstehen lassen können wie bei Nadar. Barnes porträtiert den britischen Offizier Fred Burnaby, der sich in die legendäre Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844–1923) verliebte. Und er berichtet in einem herzergreifenden Text vom Tod seiner Frau Pat, ein Verlust, unter dem er heute noch leidet.
Fataler Irrtum
In der Liebesgeschichte kommen zwei zusammen, die nicht wirklich zueinander passen. Der Abenteurer Burnaby verliebt sich in die Schauspielerin Sarah Bernhardt, als er sie auf der Bühne sieht. Zu seinem Erstaunen schafft er es nach der Vorstellung verblüffend einfach, sie in der Garderobe zu besuchen. Noch mehr staunt er, als er sich kurz darauf in ihrem Bett wiederfindet. Burnaby führt den «Erfolg» auf seine Unwiderstehlichkeit zurück. Ein fataler Irrtum, wie sich bald herausstellt, denn Bernhardt hatte mehr Liebhaber als Bühnenrollen – und von denen hatte sie jede Menge.
Das Ergebnis war für Burnaby brutal: Als er auf den eitlen Gedanken verfiel, ihr einen Heiratsantrag zu machen, wies sie ihn zurück. Wenige Tage später sah er sie am Arm seines Nachfolgers. Burnaby litt so lange unter dieser Zurückweisung, bis ihm ein Nubier in einem Kolonialgefecht einen Speer in den Nacken stiess und seinem Leiden ein Ende setzte.
Im letzten Teil von «Lebensstufen» spinnt Barnes den dialektischen Gedanken des Zusammenfügens weiter und setzt sich mit existenziellen Fragen auseinander. Dazu führt ihn die Trauer um seine verstorbene Frau, die innert eines Monats an einem Tumor verschied. Der Atheist Barnes schreibt über den unwiderruflichen Verlust und seine neue Verletzlichkeit. «Darum richtet sich die Wut vielleicht gegen Freunde. Wegen ihrer Unfähigkeit, das Richtige zu sagen oder zu tun, wegen ihrer unerwünschten Aufdringlichkeit oder scheinbaren Gefühlskälte.» Barnes geht in seinem Urteil hart mit seinen Mitmenschen um, aber am härtesten mit sich selbst – bis hin zu Reflexionen über den Suizid, den er sich ernsthaft überlegte.
Er kommt davon ab, weil damit die intensivsten Erinnerungen an seine Frau, seine eigenen, verloren gingen. Der Autor knüpft mit «Lebensstufen» an sein autobiografisches Werk «Nichts, was man fürchten müsste» (2008) an, in dem er Daseinsfragen nachgeht und sich mit der Aussicht auf den Tod abzufinden versucht.
Gekonnt verknüpft Barnes hat mit diesem Band ein aufwühlendes, kleines Werk geschrieben. Die Verbindung von witzigen, historischen Episoden mit dem ziemlich durchgedrehten Fotografen Nadar und dem ungewöhnlichen Abenteurer Burnaby mit seinem persönlichen Schicksalsschlag ist verblüffend, packend und berührend.
Julian Barnes
«Lebensstufen»
141 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2015).