Der Erste, der mir zuwinkt, als ich an einem milden Herbstabend in Krakau den Rynek überquere, ist ein Sensemann. Er steht auf Stelzen vor der Marienkirche, und ich denke an Georg Trakl, der im Ersten Weltkrieg hier verstarb. Doch dieser Sensemann nickt mir freundlich zu und wiegt seine Sense langsam vor mir hin und her. Vor ihm steht ein Körbchen mit ein paar Zlotys drin, aber es fällt mir schwer, einem Sensemann Geld zu geben. Ein Todbringer, der sich bezahlen lassen möchte, wer hat das schon gesehen? Ein Sensemann, der für seine Düsterkeit Geld einfordert. Doch heutzutage bringt er nicht mehr den Tod, sondern er unterhält. Der Todmacher, ein Clown. Sterben müssen wir trotzdem.
Ich vertreibe diese Gedanken und nähere mich, um ihm ein paar Münzen hinzuwerfen, aber auch diesmal schaffe ich es nicht. Dem Sensemann, auch wenn er nur ein verkleideter Krakauer ist, Geld zu spenden, das bringt bestimmt Unglück. Ich blicke ihn entschuldigend an, mache kehrt und beobachte ihn noch eine Weile aus sicherer Entfernung, wie er mit zwei Touristinnen posiert, die sichtlich keine Berührungsängste haben. Hinter mir klappern die Zweispänner über das Pflaster. Es riecht nach Pferden und Holzöfen. Ein Geruch, der nur für Touristen romantisch ist, denn Krakau liegt in einem Talkessel, und wenn im Winter mit Kohle geheizt wird, bringt das die Menschen fast um den Verstand. Die schlechte Luft liegt dann schwer und undurchlässig wie ein Deckel über der Stadt.
Nicht weit vom Rynek entfernt finde ich das Restaurant Chimera. Der schmale Raum ist mit einem Glasdach überdeckt. Farn, Efeu und weitere Kletterpflanzen reichen bis zu den Köpfen der Gäste. Kerzen flackern auf den kleinen Tischen mit Holzbänken, das Licht spiegelt sich in der Glasdecke und lässt die grünen Tentakel lebendig wirken, als ob sie nach uns greifen würden. Der Knoblauchgeruch steigt mir in die Nase und ich niese so heftig, dass die Kerze erlischt. Die Schärfe im Gaumen freut mich, denn für mich war Knoblauch schon immer verbunden mit den Gerichten meiner Grossmutter. Knoblauch nicht zu lieben, wäre Verrat an ihr.
Ich nehme das Buch mit den Gedichten von Georg Trakl aus dem Rucksack und suche jenes, das er vor seiner Abreise nach Galizien geschrieben hat. Da klingt das Grausame an, das dieser Dichter erfahren musste: «Mit zerbrochenen Brauen, silbernen Armen / Winkt sterbenden Soldaten die Nacht. / Im Schatten der herbstlichen Esche / Seufzen die Geister der Erschlagenen.» Er brach zusammen und wurde in das Garnisonsspital von Krakau eingeliefert. Wenige Tage später, nach dem letzten Besuch seines treuen Freundes und Entdeckers, Ludwig von Fricker, schluckte der unglückliche Dichter die tödliche Dosis Kokain. Es ist seltsam, ihn wieder zu lesen. Als ganz junge Frau war ich oft in seinen Versen versunken und konnte mich nur mit Mühe davon wegreissen. Später hatte ich ihn irgendwann zur Seite gelegt, doch auch nach 20 Jahren entfalten seine Gedichte immer noch denselben Sog auf mich.
Das Restaurant füllt sich schlagartig mit einer grossen Gruppe junger Menschen, unter ihnen einige Mönche. Die Kellnerin, die meinen Teller abräumt, beugt sich leicht über den Tisch – die Kerze erhellt ihr Gesicht – und sie flüstert mir auf Englisch zu, dass ich gleich einige seltsame Leute erleben würde. Die Zeit vergeht, und ich habe ihre Warnung beinahe vergessen, als sich plötzlich die Menge erhebt und feierlich zu singen beginnt. Der Raum wird erfüllt von den Stimmen. Neben mir singt einer, der kaum achtzehn Jahre alt ist, voller Inbrunst. Seine Hände sind zusammengefaltet, seine Augen leuchten, und er blickt zur Glaskuppel empor. Die Pflanzen verdecken die Sicht auf seinen Himmel, der nicht der meine ist. Sein Glaube verspricht ihm Erlösung.
Die Kellnerin, wie um sich zu entschuldigen, klärt mich auf, es sei ihr Chef, der sie alle eingeladen habe, damit sie feiern und gratis essen können zum Beginn des neuen Hochschuljahres. Das sei seine Art, Gutes zu leisten. Sie hingegen würde anders entscheiden, wenn sie könnte. Ich spreche eine der drei jungen Frauen an, die neben mir sitzen. Sie heisst Sylwia, sie ist Studentin und das erste Mal dabei. Sie probiere aus, sagt sie, sie sei auf der Suche nach dem richtigen Weg. Wir reden noch eine Weile und verabreden uns für den nächsten Tag, dann bricht sie das Gespräch ab, denn sie beginnen erneut zu singen.
Kaum trete ich auf die Strasse, schon kreuzt eine schwarze Katze meinen Weg, aber ich habe keine Zeit, an das Unglück zu denken, das sie bringen könnte, denn von weit oben, irgendwo über mir, ertönt eine Melodie. Zu jeder vollen Stunde hören sie die Krakauer, es ist die Trompete des Hejnał-Spielers aus dem Turm der Marienkirche. Eine Melodie, die jedes Mal mittendrin abbricht und an den Tatarensturm erinnern soll. Diese Stadt musste viele Stürme ertragen. Der Legende nach wollte der Hejnał-Spieler die Bevölkerung warnen und wurde nach nur wenigen Takten von einem Pfeil getroffen. Seitdem stirbt der Trompetenspieler jede Stunde von Neuem und sein Lied versiegt. Studentengruppen kommen mir entgegen, singen, laut und weltlicher als im «Chimera», und übertönen die Trompetenklänge. Wie gut würde das Zürich, meiner Heimatstadt, tun, eine unperfekte Melodie.
An meinem letzten Tag in Krakau, als ich Sylwia treffe, regnet es in Strömen. Unter einem kleinen Schirm gehen wir den Weg zum Friedhof Rakowice, um das Grab der Dichterin Wisława Szymborska zu besuchen. Elf Jahre lang war dort auch Georg Trakl begraben, bis ihn sein Freund nach Mühlheim überführen liess, wo sie nun nebeneinander liegen.
Es ist ein endloser Weg im Regen, bis wir dort ankommen. In einer kleinen durchnässten Papiertüte trage ich ein Sträusschen Blumen mit, das ich zuvor an einem Marktstand kaufte, neben dem der Sensemann wieder balancierte. Auch er muss sich täglich sein Brot verdienen. Krähen werden aufgescheucht von den Gesängen einer Trauergesellschaft, und der feuchte Kiesweg knirscht unter unseren Füssen. Sylwia erzählt von Bernhardyna Maria Jabłonska, die bald heiliggesprochen werden sollte und die, wenn die Menschen ihr Glauben geschenkt hätten, den Zweiten Weltkrieg hätte verhindern können. «Dass du das glauben kannst», flüstere ich. Sie erwidert stolz und zugleich verletzt, dass sie eben daran glaube. Wir schweigen darauf beide und suchen noch lange das Grab im Labyrinth der Toten. Als wir es finden, staunen wir, denn kein Kreuz schmückt ihr Grab, kein Bild, gar nichts. Nur eine umgekippte Porzellantaube liegt auf der rötlichen Grabplatte und darunter ein Zettel mit einer vom Regen zerflossenen Handschrift. Sylwia sucht das Kreuz, das Zeichen, den Glauben. Ich hingegen bin erleichtert über so viel Schlichtheit und lege meinen Strauss gleich neben der Taube ab. Sylwia und ich gehen schweigend den Weg zurück, aus dem Friedhof heraus, bis zur nächsten Haltestelle. In der Strassenbahn packt sie zögerlich einen Umschlag aus ihrem Mantel aus, öffnet ihn und schenkt mir dann einen Rosenkranz. Sie sucht eine Antwort in meinen Augen, die ich ihr nicht geben kann.
Svenja Herrmann
Die 40-jährige, in Frankfurt geborene Schriftstellerin Svenja Herrmann ist in Oberägeri ZG aufgewachsen und lebt in Zürich. Nebst ihrer Tätigkeit als Expertin für Begabungsförderung arbeitet sie unter anderem freiberuflich im Bereich der Schreib- und Leseförderung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet.