Am Anfang steht die Enge. Cueni beschreibt eine verpfuschte Kindheit in einer jurassischen Gemeinde mit dem metaphorischen Namen Vilaincourt. Da ist nichts von separatistischer Romantik zu spüren, dafür drückt katholische Repression allerorts. Der Erzähler fühlte sich von seinen Eltern ungeliebt und vernachlässigt. Sein Vater kümmerte sich kaum um die Familie, die Mutter litt unter religiösem Wahn. Elend und Witz, Euphorie und Depression liegen in der «Script Avenue» nahe beisammen.
In einem neuen Licht
Das Buch zeigt Cueni in einem neuen Licht. Bisher ist er mit zahlreichen historischen Romanen hervorgetreten, darunter «Das grosse Spiel» über den Papiergeld-Erfinder John Law oder «Cäsars Druide» über die Gallischen Kriege. Nun gibt der Autor viel Persönliches von sich preis; er händigt dem Leser den Schlüssel zu seinem Leben aus. Und er schreibt in seiner kraftvollen Sprache unerschrocken über seine lebensbedrohliche Krankheit; Cueni ist an Leukämie erkrankt.
Der kleine Protagonist in der «Script Avenue» findet nur zu wenigen Erwachsenen Zugang, in den ersten Jahren wenigstens zu seinem Onkel Arthur, einem «pied noir», einem ehemaligen Algerien-Kämpfer. Doch dieser erweist sich als Kriegsverbrecher und vor allem als Kinderschänder. «Er drückte seinen Kopf gegen mein Kinn, begann zu schnaufen wie ein Ochse und fummelte an seiner Hose herum …» Claude Cueni erspart dem Leser die Details des Traumas nicht.
Der Ich-Erzähler schuf sich gedanklich eine eigene Welt, die dem Buch den Titel gegeben hat: «Ich flüchtete in meine Script Avenue. Es war mittlerweile eine endlose Allee, die nirgends anfing und nirgends aufhörte. Ich kenne heute noch jedes Haus, jedes Fenster, jeden Bewohner …» Etwa elterlicher Ehekrach trieb ihn immer wieder dorthin.
Schwarzer Humor
Geborgenheit findet der Protagonist in seiner grossen Liebe Andrea, die beiden sind sich jahrelang fast verfallen, haben einen Sohn miteinander. Bis seine Frau mit der Diagnose Krebs konfrontiert ist – sie verfällt einer depressiven Aggression und macht das Familienleben zur Hölle: «Ihr seid schuld, dass ich Krebs habe. Ihr beide solltet Krebs haben, nicht ich», wirft sie ihrem Mann und Sohn vor.
Im Gegenzug wiederum schwarzer Humor, als der Erzähler berichtet, wie er in Südchina die Asche der Toten verstreuen wollte. Dazu fuhr er mit dem Taxi ans Meer: «Die Tür flog auf, und Andrea segelte aus dem Auto. Zum Glück war die Urne aus Messing …» In der Folge ist zu lesen, dass das Verstreuen von der Asche einer Verstorbenen unerwartete Tücken haben kann.
Cueni machte ein kleines Vermögen als Drehbuchautor von Serien wie «Eurocops», «Tatort» oder «Peter Strohm». Er entwickelte auch sehr erfolgreiche Computerspiele. All dies findet in der «Script Avenue» Niederschlag, einzelne Episoden sind köstlich beschrieben, etwa der Besuch bei einem reichlich exzentrischen Fernsehdirektor in Leutschenbach. Ein Schelm, der bei dieser Figur an den ehemaligen TV-Chef Peter Schellenberg denkt.
Am härtesten ist der Leser mit dem Schluss des Buchs gefordert. Der Erzähler erhält selbst die Diagnose Krebs. «Ihre Lunge wird verklumpen und abgestossen. Sie werden Atemnot haben …», sagt ein Arzt.
Trotz der Misere – der Lebenswille und der Schalk gehen nie verloren. «Script Avenue» ist ein dickes Buch, in dem jeder Leser etwas für sich findet – Zeitgeist, Lebenserfahrung, viele Emotionen. Ein Leseerlebnis.
Claude Cueni
«Script Avenue», 640 Seiten
(Wörterseh 2014).
Drei Fragen an Claude Cueni
«Lustvolle Unverschämtheit»
kulturtipp: Sie gehen mit Ihren Figuren unerbittlich um, besonders Ihre jurassische Verwandtschaft kommt schlecht weg.
Claude Cueni: Mit einer Ausnahme habe ich stets versucht, die Vielfalt eines Charakters darzustellen. Durchaus liebevoll, wie mein Sohn meint. Aber es ist sicher so, dass sich das Buch nicht um Tabus und Political Correctness schert. Ich schreibe nicht, was sein sollte, ich schreibe nicht, was man darf, ich schreibe, was ist.
Also Wahrheit – nichts als die Wahrheit?
Die spanische Literatur nennt dieses Genre den «magischen Realismus», man erzählt eine sehr realistische Geschichte mit fliessenden Übergängen in den Surrealismus, in eine zweite Realität. Die surrealistische Komponente ist ohne Zweifel von den über 20 000 Pillen beeinflusst, die ich seit meiner Leukämieerkrankung geschluckt habe, aber sie ist in der «Script Avenue» klar von der Realität trennbar.
War es schmerzhaft für Sie, diese Lebensbilanz zu schreiben?
Es war nicht einfach, das lange Sterben meiner Frau zu beschreiben. Da brauchte ich schon eine grosse Aktionspackung Taschentücher. Aber über weite Strecken ist das Buch doch sehr witzig und mit viel Selbstironie geschrieben. Ich wollte ein Buch schreiben, das alles vereint, was das Leben ausmacht: Komik und Desaster. In jedem Leben steckt eine Menge «Pulp Fiction».