Nach einem anstrengenden Arbeitsmorgen im Ballettsaal zeigt Stephan Thoss keine Ermüdungserscheinungen. Der Choreograf setzt sich mit der Journalistin in eine Ecke und erzählt fast zwei Stunden lang engagiert von seiner neuen Arbeit für «Die Liebe kann tanzen» mit dem Ballett Basel. Der Mann scheint über ein unerschöpfliches Energiereservoir zu verfügen. Er springt spontan vom Stuhl, um die Theorien des deutschen Tanzpioniers Rudolf von Laban zu erläutern. Und er erfindet aus dem Moment heraus theatrale Situationen, um den mathematischen Zusammenhang zwischen einer Bewegung und ihrem Ausdruck zu veranschaulichen. Bei dieser «Vorführung» ahnt man, welch ein guter Tänzer Thoss einmal gewesen sein muss.
Geradlinig und natürlich
Jetzt brilliert er als Choreograf; bis vor kurzem war er sieben Jahre lang Ballettdirektor am Staatstheater Wiesbaden. Davor hiessen die Stationen Dresden, Kiel und Hannover. Als Tanzchef an diesen Häusern erarbeitete er sich Ruf und Ruhm. Seine Stücke gingen auf Tournee und wurden von anderen Theatern übernommen. Thoss war Gastchoreograf von grossen Kompanien wie dem Nederlands Dans Theater II, dem Stuttgarter Ballett oder Les Grands Ballets Canadiens Montreal.
Trotz aller Erfolge hat sich Stephan Thoss eine Geradlinigkeit und sympathische Natürlichkeit bewahrt. Ohne seine Worte zu filtern, erzählt er freimütig von seiner Kindheit in der DDR. Früh fiel der 1965 Geborene auf, weil er nicht still sitzen konnte. Mit und ohne Musik zappelte und tanzte er. Enthusiastisch trieb er in der Freizeit Sport, und da das seinen Bewegungsdrang nicht befriedigen konnte, schickte ihn seine Mutter zwei Mal die Woche ins Ballett. «Ich habe mich als einziger Junge neben sieben Mädchen furchtbar geschämt», sagt Thoss, «aber gehorsam, wie ich war, habe ich mich dreingeschickt.»
Die Abmachung mit den Eltern lautete, dass er dafür weiterhin Leichtathletik-Stunden besuchen durfte. Mit zehn entdeckten ihn Talent-Scouts der renommierten Palucca-Schule in Dresden. Es begann eine einsame und mitunter harte Zeit mit vielen anderen gleichaltrigen Eleven zusammen in einem Internat. Schlimmer für den Jungen war die Erfahrung, dass er an den Wochenenden nicht wie die andern von den Eltern abgeholt wurde.
Wegweisende Meister
Häufig war niemand da, der ihn erwartete, wenn er nach Hause kam – weder seine drei Geschwister noch seine Eltern. Alle schienen zu beschäftigt. Das Vertrauen in die Familienbande begann langsam zu bröckeln. Glücklicherweise, wie Thoss erzählt, fand er in seinem Tanzlehrer Patricio Bunster, dem früheren Direktor des Nationalballetts in Santiago de Chile, einen Vaterersatz. Der brachte ihn als ehemaliger Tänzer beim legendären Kurt Jooss in Kontakt mit den Ideen von Laban und dem deutschen Ausdruckstanz. Das sollte die künstlerische Handschrift von Thoss einschneidend prägen. «Als Bunster zurück nach Chile ging, hielten wir Kontakt. Ich schickte ihm Videos meiner ersten choreografischen Arbeiten, die er jeweils kritisch kommentierte.» Laban ist für Thoss bis heute eine Leitplanke geblieben: In seiner gefeierten Arbeit «Loops and Lines» mit dem Ensemble modern von 2013 setzte er sich mit dessen Einfluss auf den neuen Tanz auseinander.
Die Bandbreite von Thoss’ Werkliste ist gross. Sie reicht von vergnüglich-ironischen Stücken über schwere Themen bis hin zu den klassischen Handlungsballetten «Schwanensee» oder «Dornröschen». Hier zeigt sich ein weiterer künstlerischer Einfluss auf das Schaffen von Thoss. «Der schwedische Choreograf Mats Ek war für mich ebenfalls wichtig, ich habe seine Arbeiten damals in mich eingesogen.» Wie der nordische Geschichtenerzähler sucht Thoss nach einem eigenen Ansatz. Bei ihm muss – ganz in der Tradition des Intellektuellen Laban – jede Bewegung im Tanz einen Grund und ein Ziel haben. In «Blaubarts Geheimnis», letzte Saison mit dem Ballett Basel aufgeführt, fand Thoss für die Handlungen der Titelfigur eine raffinierte psychologische Deutung.
Eine Familie auf Zeit
Nun probt er in Basel ein neues Stück ein. In «Die Liebe kann tanzen» geht es nicht um die romantische Liebe, sondern um Freundschaft und Familienbande, um Vertrauen und Verlässlichkeit – Grundlagen einer jeden gut funktionierenden Gruppe. Das heisst: Eigentlich geht es im Stück um die Abwesenheit von Zugehörigkeit und Verbindlichkeit, um die Unvereinbarkeit von persönlicher Freiheit und «Familie». «Wenn ich einen Pas de deux eines harmonischen Liebespaares kreierte, würde sich nach zehn Minuten Langeweile ausbreiten», sagt Thoss. Immer waren es die Konflikte und der Mangel, die Künstler zu ihren Arbeiten inspirierten. Der «familiengeschädigte» Thoss hat im Privaten seine Familie gefunden. «Und an der werde ich schön festhalten.» Eine Familie auf Zeit ist auch jede Kompanie, mit welcher der Deutsche gerade arbeitet: «Denn eine Choreografie entsteht nur im lebendigen Dialog und auf der Basis von Vertrauen.»
Die Liebe kann tanzen
Do, 18.12., 19.30 Uraufführung Theater Basel