Kurz vor Mitternacht dämmerte es mir. In den Tagen davor hatte ich Kisten gepackt, mein Bankkonto aufgelöst,
mich auf der Einwohnerkontrolle abgemeldet und die Wohnung nochmals geputzt. Nun stand ich auf dem Bahnsteig vor dem Zug «Basel–Calais», mit dem ich alles verlassen würde, was mir vertraut war. Die Entscheidung, nach Irland zu übersiedeln, war vor einigen Monaten gefallen, und die Fahrt ins Ungewisse, die ich in dieser milden Juninacht antrat, war eine ganz und gar freiwillige. Dennoch fror ich mit einem Mal. Ich konnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben, vor allem aber: Es war unfassbar, nicht mehr in der Schweiz zu Hause zu sein.
Natürlich wusste ich, dass Unzählige vor mir aufgebrochen waren, Söldner, Siedler, Baumeister, Zuckerbäcker, Käser. In meiner eigenen Familie gab es Auswanderer, Onkel und Tanten in «Übersee». Not, Bedrohung, Enge, aber auch Profit, Neugier und Abenteuerlust haben die Schweizer schon immer dazu getrieben, im Ausland ihr Glück zu suchen, und einmal in der Ferne, veränderte sich ihr Blick auf die Schweiz.
Die Gefühle ausgewanderter Schweizer ihrem Herkunftsland gegenüber reichen vom «verlorenen Paradies»* bis zum «unehrlichsten Volk der Welt» und sagen oft mehr über sie selbst als über die Schweiz aus. «Ach, wissen Sie, seit vierzig Jahren laufe ich hier in Acapulco barfuss herum. Ich glaube, an richtige Strassenschuhe könnte ich mich gar nicht mehr gewöhnen», meinte der 73-jährige Teddy Stauffer, King of Swing der 1930er-Jahre, als man ihn fragte, ob er den Murtensee denn nicht manchmal vermisse. Andere lassen sich – wie Ursula Andress bei ihren Besuchen im heimatlichen Ostermundigen – gern an ihre bescheidenen Anfänge erinnern; und die Einstellung zur Schweiz verändert sich auch im Laufe der Zeit. Elisabeth Kübler-Ross, die ihrem Ehemann nur widerwillig in die USA folgte und anfänglich dort nichts Gutes fand, schrieb nach einigen Jahren: «Ich fühle mich tatsächlich in Amerika mehr zu Hause als im Land meiner Geburt.»
Jeder Auswanderer macht die Erfahrung, dass im Ausland nicht alles so ist wie in der Schweiz, und viele entdecken, dass es auch nicht so sein muss. Bei einer Rückkehr in die Heimat wundern sie sich dann über Wohlstand und Sauberkeit, Markendenken und auf Monate hinaus verplante Freizeit, aber auch über das Vertrauen, das man in der Schweiz Unbekannten entgegenbringt, die höfliche Kompetenz von Beamten, die Freundlichkeit von Busfahrern. Mehr als den Zuhausegebliebenen fallen ihnen die ständigen Kontrollen auf, die vielen Schilder: «Da dürfen keine Hunde durch, keine Katzen, keine Velos», und viele halten die sozialen Schichten in der Schweiz für weniger durchlässig als in den Ländern, in denen sie nun leben. Vor allem aber können die Schweizer in der Schweiz nicht aufhören zu jammern. «Obwohl es ihnen so gut geht, fehlt ihnen immer noch etwas zum Glück.»
Aus der Distanz verwischen sich notgedrungen die Feinheiten einer nationalen Politik, ihre Konturen werden härter, und die Schweiz wird kleiner. Diese Kleinheit scheint – von aussen betrachtet – der Ursprung zweier gegenläufiger Verhaltensweisen zu sein: Ein zur Duckmäuserei eskalierender vorauseilender Gehorsam, wenn es zum Beispiel um die Forderungen ausländischer Finanzbehörden geht, steht einem grössenwahnsinnig anmutenden Glauben an die eigene Unverwundbarkeit gegenüber, der Ansicht, dass man klein genug ist, der europäischen Fliegenklatsche zu entgehen, zäh genug, der Flut globaler Freizügigkeit Widerstand zu leisten. Es fällt nicht schwer, das unter Radarkontrollen und prüfenden Nachbarblicken stets virulente schlechte Gewissen abzulegen, wenn man die Schweizer Grenzen einmal überquert. Was einer Mehrheit von Schweizer Auswanderern aber über Jahrzehnte hinweg bleibt, ist ein Vertrauen auf eine Art Urvernunft, die nicht nur in der Kleinheit, sondern auch in der Konstruktion der Eidgenossenschaft gründet, eine Gewissheit, dass in ihrer Heimat zwar alles etwas langsamer geht als im Ausland, zum Schluss der Verstand aber stets über rasch geschürte Ängste siegt. Wenn die Wirklichkeit uns dann Lügen straft, sitzen wir beschämt vor unseren ausländischen Fernsehschirmen und hören ausländischen Experten zu, die uns das Land zu erklären versuchen, das wir zu kennen glaubten.
Die milde Juninacht, in der ich aus Basel abreiste, liegt 30 Jahre zurück, und das Land, das ich damals verliess, existiert nicht mehr. Bei aller Beharrlichkeit verändert sich auch die Schweiz. Während meinen Besuchen scheint sie mir offener und milder als in meiner Jugend, und natürlich wird man selbst milder, wenn man in einem anderen Land willkommen geheissen wurde und sich ein Leben einrichten konnte. Sicher ist, dass die Schweiz, lange bevor sie zum Einwandererland wurde, ein Auswandererland war. Seit ein paar Jahrzehnten sind die Schweizer die Gastgeber, die Hausherren, die über die Aufnahme von Zuwanderern bestimmen. Über Jahrhunderte waren sie die Wandernden, die um Aufnahme baten und sie auch fanden. Was die Schweizer Auswanderer bei allen Unterschieden verbindet, ist eine erzwungene oder erwünschte Auseinandersetzung mit anderen, nichtschweizerischen Lebensweisen und Kulturen, und dabei lernt man nicht nur etwas über das Fremde, sondern vor allem auch etwas über das Eigene. Wir definieren uns an dem, was wir nicht sind, und vielleicht werden deshalb manche Schweizer erst im Ausland wirklich zu Schweizern. Fundamentaler jedoch ist zweifellos die Erfahrung, dass die Schweiz nicht das Mass aller Dinge ist, dass man auf andere Weise leben kann und vielleicht sogar will.
* Die Zitate, wenn nicht anders vermerkt, stammen aus Gesprächen mit Schweizer Auswanderern. Sie sind im Buch «Ausgewandert – Schweizer Auswanderer aus 7 Jahrhunderten» von Gabrielle Alioth, Faro Verlag, Lenzburg, das im April 2014 erscheint.
Gabrielle Alioth
Gabrielle Alioth wurde 1955 in Basel geboren und studierte Wirtschaftswissenschaften und Kunstgeschichte. 1984 übersiedelte sie mit ihrem Mann nach Irland, arbeitete dort als freie Übersetzerin und Journalistin. 1990
erschien ihr erster historischer Roman, zahlreiche
weitere Werke folgten.