Es war einer jener magischen Willisauer Momente. Während das Luzerner Landstädtchen im Spätsommer 2000 den sonntäglichen Nachmittagsschlaf hielt, war in der Festhalle ennet des Stadttores der Teufel los. Da sass einer am Konzertflügel und lud sein Publikum in eine spontan erschaffene Klangwelt – auf derart plastische Art, dass alle sie in den Ohren mit nach Hause tragen konnten. Kenner waren sich einig: Cecil Taylor, damals 71, gab eines seiner besten Solokonzerte. Die Radioaufnahme ist 2010 beim Zürcher Label Intakt Records erschienen.
Nun kehrt der New Yorker Freejazz-Pionier nach Willisau zurück. Auch mit 84 sprüht Taylor vor kreativer Energie und visionärer Strahlkraft. Diese macht den Pianisten zur Ausnahmeerscheinung: Seine Konzerte ähneln gewaltigen Vulkaneruptionen in ihrer schaurigen Schönheit. Cecil Taylor ist Freejazzer – manche sagen: Der erste, der wichtigste und der unermüdlichste. Seine Unbändigkeit basiert aber nicht nur auf Demontage und Intuition. Er hat sein Fach gründlich studiert, hat Neutöner wie Bela Bartok, Igor Strawinsky und Arnold Schönberg ebenso verinnerlicht wie die wegweisenden Jazzer Art Tatum und Bud Powell.
Am spürbarsten wird dies bei Soloauftritten, wenn Taylor gefangen nimmt mit kunstvoll geflochtenen Mustern aus Läufen und Motiven. Glasklare Melodielinien steigern sich kaskadenhaft zu orgiastischen Cluster. Taylor muss man sehen – wie er bunt gewandet und in Wollsocken den Flügel spielt, ihn umwandert und rezitierend beschwört. Ein Schamane eben.
Das pure Gegenteil ist Joe Henry, eine zweite Ausnahmeerscheinung am diesjährigen Willisauer Festival. Tanzt Taylor auf dem Vulkan, so wirkt Henry als Seismograf. Der 52-Jährige zählt zu den begehrtesten Musikproduzenten in New York. Stars wie Madonna, Bonnie Raitt oder Hugh Laurie zählen auf seine Kunst, aus Tonmaterial breitenwirksame Songs zu mischen. Eigentlich ist Henry Singer-Songwriter und hat zahlreiche eigene Platten veröffentlicht. Seinen vielschichtigen Folkpop mischt er oft mit überraschenden Gästen wie dem Jazzpianisten Brad Mehldau, Gitarrist Marc Ribot oder Drummer Brian Blade. Einmal lud er sogar Ornette Coleman ein. Und hier begegnen sich Joe Henry und Cecil Taylor. Saxofonist Coleman (83) wird gemeinhin als der Pionier des Freejazz genannt und stand lange in kreativer Konkurrenz zu Taylor.
In Willisau gibts auch jüngere Musik zu hören. Aus Chicago reist mit Mike Reed einer der regsten Inspiratoren des jungen Improjazz an. Der 38-jährige Drummer wird sein Projekt Living By Lanterns vorstellen, das auf wiederentdeckten Tonbandaufnahmen von Sun Ra basiert. Radio SRF 2 Kultur überträgt dieses Konzert glücklicherweise live.
Natürlich hat Festivalchef Arno Troxler auch seine Kumpanen der Schweizer Jazz- und Rock-Szene eingeladen: Darunter Trompeterin Hilaria Kramer, Saxer Nicolas Masson oder Sängerin Evelinn Trouble. Ein buntes Panorama.
CD
Cecile Taylor
The Willisau Concert
(Intakt 2010).
Jazzfestival Willisau
Mi, 28.8.–So, 1.9., Festhalle und Stadtmühle Willisau LU
www.jazzfestivalwillisau.ch
Live auf Radio SRF 2 Kultur
Do, 29.8., 22.30–24.00
Mike Reed’s Living By Lanterns und Third Reel
Sa, 31.8., 22.00–24.00
Kappeler/Zumthor und Marcus Gilmore Band
Buch und Online-Archiv
Cecil Taylor, der gefeierte Stargast in Willisau, gastierte bereits drei Mal im Luzerner Hinterland. Zur Erstausgabe 1975 spielte er um 19.30 Uhr im «Mohren» mit Saxer Jimmy Lyons und Drummer Andrew Cyrill. Im Sextett war er 1983 in der Festhalle zu hören und letztmals solo im Nachmittagsprogramm 2000.
Diese Details müssen Willisau-Afficionados nicht mehr aus persönlichen Tagebüchern hervorsuchen. Und Neulingen sind sie genauso schnell zugänglich. Das Zauberwort heisst «Willisau Jazz Archive». Das seit kurzem zugängliche Online-Archiv umfasst das von Festivalgründer Niklaus Troxler seit 1975 gesammelte Material. Oliver Senn von der Hochschule Luzern hat es erfasst und aufbereitet. Nun lässt sich nach Cecil Taylor & Co. ebenso suchen wie nach einzelnen Konzerten oder gar nach Instrumenten. Zu allen Festivalausgaben sind Programmtexte, Fotos, Plakate, Presseberichte und kurze Tonbeispiele vorhanden. Das ganze Willisauer Tonarchiv lagert in der Nationalphonothek in Lugano und ist an landesweit 50 Abspielorten hörbar (www.fonoteca.ch/green/listeningPlaces_de.htm).
Anfang September erscheint zudem die visuelle Chronik «Willisau And All That Jazz». In diesem Band blickt Niklaus Troxler in Bild und Text auf seine Jahre als Konzertveranstalter und Festivaldirektor in Willisau zurück. (fn)
Archiv
www.willisaujazzarchive.ch
Buch
Niklaus Troxler/Oliver Senn
«Willisau And All That Jazz»
704 Seiten
(Hochschule Luzern/Till Schaap Edition 2013).