Der Indologe und Mythenforscher Heinrich Zimmer (1890–1943) liebt die Frauen – und die Frauen lieben ihn. Er ist mit der berühmten Dichter-Tochter Christiane von Hofmannsthal verheiratet und pflegt eine lebenslange Beziehung zu seiner Geliebten Mila Rauch. Gelegentlichen Techtelmechteln mit seinen Studentinnen ist er ebenfalls nicht abgeneigt. Seine Ehefrau Christiane duldet diese Liebesverstrickungen, so lange er sich um sie und die gemeinsamen Kinder kümmert. Sie sieht es pragmatisch: «Zwar braucht er für sein Wohlbefinden zwei Frauen, zweimal zwei Kinder, zwei Häuser und zwei Gärten mit Sonnenblumen, aber dafür macht er auch doppelt so viele Menschen glücklich.»
Gut eingerichtet
Milas Mann Eugen Esslinger kommt mit dieser Liebesaffäre ebenfalls gut zurecht: Er ist seiner Frau zwar emotional zugetan, sexuell aber an Männern interessiert – Milas Kinder hat Heinrich Zimmer gezeugt. Und Mila selbst besitzt ein unerschrockenes und heiteres Gemüt. Manchmal von Eifersucht geplagt, hat sie sich insgesamt recht gut mit ihrem Leben zwischen zwei Männern eingerichtet. «Ihr gemeinsames Leben bewegt sich nun mal jenseits der momentan herrschenden Gesellschaftsordnung – und was hat sie denn schon mit dem eigentlichen Leben zu tun?», sagt sich Mila, als sie darüber sinniert, dass sie sich nicht gleichzeitig um ihren Geliebten und um den Haushalt kümmern kann.
Historische Quellen
Ein bunter, geradezu «tumultöser Kosmos» an historischem Material bot sich der 59-jährigen Autorin Katharina Geiser, wie sie im Nachwort schreibt. Ihre einstige Deutschlehrerin Maya Rauch (1925–2008) hatte ihr rund 1700 Briefe ihres Vaters Heinrich Zimmer an ihre Mutter Mila Esslinger-Rauch und einige Briefe ihres Ziehvaters Eugen Esslinger sowie ihrer Mutter Mila zur Verfügung gestellt. Familienfotos, Urkunden und Manuskriptseiten vervollständigten das Bild der unkonventionellen Familiengeschichte zwischen 1909 und 1944. Daraus entstanden ist der neue Roman «Vierfleck oder Das Glück», in dem die Schriftstellerin wie bereits in ihren Romanen «Vorübergehend Wien» (2006) und «Diese Gezeiten» (2011) historische Fakten kunstvoll mit Fiktion vermischt.
Besonderes Augenmerk gilt Eugen Esslinger, der zwar nicht die schillerndste Figur im Vierer-Gespann ist, der Autorin aber besonders ans Herz gewachsen ist. Der kränkliche und duldsame Sohn eines jüdischen Miederwarenfabrikanten versuchte sich als Künstler, lebte aber vor allem vom ererbten Vermögen – bis er alles verlor. Seine Homosexualität konnte er im faschistischen Deutschland nur heimlich ausleben; die Ehe mit Mila diente als Tarnung. Während der Kriegsjahre flüchtete er ins Schweizer Exil. Für Mila ging er sogar so weit, die Scheidung zu akzeptieren, damit sie den Arier-Nachweis für ihre Kinder beantragen konnte. 1944 starb er vereinsamt in Fribourg. Und der Nationalsozialismus holte auch die Lebemenschen Mila und Heinrich ein.
Kunstvolles Mosaik
Die Geschichte dieser Ménage-à-quatre kristallisiert sich erst nach und nach heraus: Katharina Geiser datiert die kurzen Kapitel jeweils mit einer Jahreszahl, wechselt aber stets die Zeitebenen, springt von Vorkriegszeiten in die Kriegsjahre und zurück. Trotz tragischer Ereignisse und melancholischem Unterton geht der Humor nicht verloren: Etwa in den Beschreibungen des Schürzenjägers Heinrich Zimmer und in Anekdoten über Zeitgenossen wie den Psychoanalytiker C.G. Jung, den Schriftsteller Hermann Hesse oder die Lyrikerin Else Lasker-Schüler. In poetischer Sprache erzählt die Autorin von der Suche nach dem individuellen Glück, das in Kriegszeiten von äusseren Umständen besonders abhängig ist.
Buch
Katharina Geiser
«Vierfleck oder Das Glück»
272 Seiten
(Jung und Jung 2015).