«Güte oder Feigheit?», diese Frage stellt sich Gorge Mastromas ein halbes Leben lang. Bis er feststellen muss, dass es eigentlich dasselbe ist. Gorge hatte seit seiner Kindheit versucht, moralisch richtig zu handeln. Als sich sein Freund in der Schule plötzlich vom beliebten Spielkameraden zum pickeligen Aussenseiter wandelt, stellt er sich auf seine Seite – und wird selbst zum Loser. Als er die Gelegenheit hat, seinen Schwarm Vanessa zu küssen, vertut er aus Rücksicht auf ein anderes Mädchen die Chance. «Gorge entschied sich immer für das Richtige. Es schien ihm gar nichts anderes in den Sinn zu kommen», heisst es im Stück des Londoners Dennis Kelly. Doch das Leben belohnt Gorge nicht. Im Gegenteil, er fällt mit seinem moralisch richtigen Verhalten stets auf die Nase.
Bis zu dem Tag, als eine skrupellose Geschäftsfrau dem mittlerweile 29-jährigen Gorge eröffnet: «Das Dasein ist nicht so, wie Sie bis zu diesem Moment geglaubt haben. Es ist nicht fair, es ist nicht nett, es ist nicht gerecht – der Grossteil des Universums ist genau genommen so kalt, dass Ihnen das Wasser in den Augen gefriert.» Gorge lässt sich ein auf ein unmoralisches Angebot, das sie ihm daraufhin unterbreitet, und spielt von da an in der Liga der Reichen und Mächtigen mit. Seine Regeln heissen fortan: «1. Wenn du etwas willst – nimm es dir.
2. Um dir alles zu nehmen, was du willst, brauchst du nichts weiter als absoluten Willen und die Fähigkeit, aus tiefstem Herzen zu lügen. 3. Rechne immer damit, aufzufliegen, nimm jede Sekunde an, als wäre es deine letzte. Und bereue nichts, niemals, nie.»
Mit diesen drei Maximen lügt sich Gorge an die Spitze der Macht. Und er schreckt auch im Privaten nicht davor zurück. Die Frau, die er will, erobert er mit dreisten Lügen. Den Bruder, der ihn auffliegen lassen will, bringt er kurzerhand um. Güte oder Feigheit? Die Frage ist obsolet geworden.
Opfer seiner selbst
Der Dramatiker Dennis Kelly lässt in seinem 2012 uraufgeführten Stück ein ganzes Leben von der Zeugung bis fast zum Tod Revue passieren. Gorge Mastromas wird vom sympathischen Durchschnittsmenschen zum skrupellosen Überflieger und im Finale zum bedauernswerten, einsamen, alten Mann. Denn schliesslich ist Gorge, wie es der Titel des Stücks bereits voraus nimmt, nichts anderes als ein Opfer seiner selbst, ein Opfer auf dem Altar des Erfolgs.
«Das Stück ist auf moderne Art mit einem Königsdrama von Shakespeare zu vergleichen», sagt Regisseur Markus Kubesch, der für das Konzert Theater Bern inszeniert. Abgesehen von der Thematik fühlt sich Kubesch besonders von der Form dieses Bühnenstücks angesprochen: Kelly mischt erzählende mit szenischen Elementen und bringt in knappen Sätzen ein menschliches Dilemma auf den Punkt. Kubesch inszeniert die Geschichte mit vier Schauspielern, die Figuren kristallisieren sich im Verlauf des Spiels heraus. Im letzten Akt taucht ein weiterer Schauspieler (Stéphane Maeder) in Gestalt von Gorge Mastromas auf.
Das Theaterteam spielt auch auf der Bühne mit Wahrheit und Lüge. Das karge Bühnenbild entpuppt sich im Lauf des Abends als Illusionstheater mit einigen Überraschungen. Die Schauspieler lassen Illusionen entstehen und verpuffen, sodass das Publikum nicht weiss, was nun Wahrheit ist.
Explosive Nachricht
Beim Probenbesuch lassen die Schauspieler Milva Stark, Nico Link und Andri Schenardi in einer Szene ein mimisches Feuerwerk explodieren. Denn die Nachricht, die der junge Gorge seiner Freundin überbringt, ist explosiv: Er hat eine andere geschwängert. Einmal mehr merkt er allerdings, dass er mit Ehrlichkeit den Kürzeren zieht. Wie im Pingpongspiel lasssen sich die drei Schauspieler die Satzbälle zufliegen, kommentieren, reflektieren und wenden sich in Dilemma-Situationen mit einer Aufforderung an die Zuschauer: «Entscheiden Sie selbst.»
«Wie viel Gorge steckt in uns allen?», diese Frage schwebt im Raum. «Kelly wertet in seinem Stück nicht. Er setzt weder die tugendhafte noch die egozentrische Weltsicht höher», sagt Kubesch. «Vielmehr stellt er die Kategorien von Gut und Böse infrage», ergänzt Dramaturgin Sabrina Hofer. «Jeder muss die moralischen Parameter für sich selbst setzen in einer Welt, in der es keinen Gott und keine Wertevorstellungen mehr gibt.» Der Ausgang des Stücks lässt sich bei Kelly unterschiedlich lesen. Die Theatermacher von Bern setzen dem Ganzen ein versöhnliches Ende: «In unserer Inszenierung gibt es die Sehnsucht nach einer dritten Möglichkeit zwischen dem altruistischen und dem egozentrischen System», sagt Regisseur Kubesch.
Aufführung in Bern
Die Opferung von Gorge Mastromas
Premiere: Mi, 29.1., 19.30
Konzert Theater Bern
Theater Kanton Zürich Winterthur
Die Auswüchse des Neoliberalismus
Einen Tag nach der Schweizer Erstaufführung von «Die Opferung von Gorge Mastromas» in Bern kommt das Stück im Theater Kanton Zürich in Winterthur auf die Bühne. Hier setzt man einen Akzent auf die Auswüchse des Neoliberalismus, die in Kellys Stück ersichtlich werden. «Das Stück vermittelt das Gefühl, dass es mit dem Kapitalismus nicht ewig so weitergehen kann», sagt Rüdiger Burbach, Regisseur und künstlerischer Leiter des Theater Kanton Zürich. «Es stellt aber auch allgemeine Lebensfragen: Was ist Glück? Was ist wichtig im Leben? Was bedeutet Besitz?» Am Text interessiert Burbach die Mi-schung aus Erzähltheater und Spielszenen: «Kelly schafft auf diese Weise eine Verdichtung von Gorges Biografie und erzeugt eine hohe emotionale Dramatik.»
Das Stück lässt sich verschiedenartig interpretieren, wie die beiden Inszenierungen zeigen. In Winterthur setzt man andere Akzente, insbesondere was das Thema Moral anbelangt: Gut und Böse werden hier klarer definiert als in Bern. Allerdings gegen die vermeintlich naheliegende Lesart: Die Inszenierung verurteilt Gorge dort, wo er moralisch einwandfrei handelt, und huldigt ihm, wo er sich wie ein «Schwein» verhält. «Am Anfang ist Gorges Geschichte mit einem hohen Wiedererkennungseffekt verbunden, es herrscht eine Atmosphäre fast wie bei einem Klassentreffen. Doch dann verändert er seinen Charakter mit solch einer Brutalität und Absolutheit, dass wir gespannt sind, wie lange ihn die Zuschauer dennoch sympathisch finden werden», so Burbach.
Auch die Umsetzung des Stücks sieht anders aus: Das Ensemble aus fünf Schauspielern setzt die erzählerischen Elemente chorisch um und wird zu einer Stimme. Die Hauptfigur Gorge wird auf drei Schauspieler aufgeteilt – so bekommt der junge, naive, der ältere, skrupellose und der alte, vereinsamte Gorge ein eigenes Gesicht. «Es wird eine eigentliche Gorge-Mastromas-Show geben», verrät Burbach. Die Bühne wird zum Fernsehstudio und die Schauspieler werden zu Entertainern, die Gorges Leben erzählen.
Die Opferung von Gorge Mastromas
Premiere: Do, 30.1., 20.00
Theater Kanton Zürich Winterthur