Hochgradig antriebslos und desorientiert: Der Ich-Erzähler in Wilhelm Genazinos neuem Roman ist einer seiner typischen Antihelden. Er verharrt in seinem Elend und ist ein genauer Alltags-Beobachter. Im neuen Roman kommt ein ausgewachsener Mutterkomplex dazu.
Der Protagonist vergleicht seine Freundin Sonja in jeder Lebenslage mit seiner Mama: «Ich hielt es für ein gutes Zeichen, dass mich Sonja an meine Mutter erinnerte, was ich ihr nicht sagte. Ich fürchtete, es würde ihr nicht gefallen, jetzt schon meiner üppigen Mutter zu ähneln.»
Ein Zauderer
Das Muttersöhnchen ist ein Mann Anfang 40, der über Kant promoviert hat, dann als Barkeeper und später als Rezeptionist arbeitet. Schliesslich landet er als Hilfsredaktor bei einem Provinzblatt, wo er sich unsäglich langweilt. Die einzige Freude in seinem Leben ist Sonja, eine «starke realistische Frau», ohne die er die alltäglichen Pflichten – etwa Unterwäsche kaufen – kaum meistern könnte. Doch irgendwann ist die Unentschlossenheit ihres Partners selbst der geduldigen Sonja zu viel, sie trennt sich von ihm und heiratet einen bodenständigen Beamten. Damit beginnt die Qual des Ich-Erzählers erst recht.
Der mit dem Büchner- und Kleist-Preis ausgezeichnete 71-jährige Wilhelm Genazino ist ein Spezialist für Sonderlinge, die mit den Ansprüchen ihrer Partnerinnen oder Geliebten überfordert sind – seien diese auch noch so gering. In fast all seinen Werken karikierte Wilhelm Genazino diese Verlierer-Typen.
Mit der heutigen durchorganisierten, technologisierten Welt hat das Leben seiner Protagonisten wenig zu tun. So erscheint der Ich-Erzähler in seinem neuen Roman «Bei Regen im Saal» oft wie aus der Zeit gefallen. Er sieht sich als «Modernitätsverweigerer» und sein Leben als «einzige lange Bedenkzeit». «Ich sass auf meinem einzigen Stuhl an meinem einzigen Tisch und schaute reglos auf meine reglosen Probleme», ist eine Aussage, die seine ganze Existenz zusammenfasst.
Viel Komikpotenzial
Mit seiner zelebrierten Lebensuntüchtigkeit geht der Eigenbrötler der Leserschaft zwar gehörig auf den Geist. Aber seine Betrachtungen zum eigenen und fremden Elend enthalten viel Komikpotenzial. «Viele von ihnen sahen aus, als warteten sie darauf, dass ihr Leben losbrandet, irgendwo, keinesfalls hier, sondern weit weg», denkt er etwa beim ziellosen Herumschlendern in der Stadt über die Passanten. Seinen Trost bezieht er aus «kleinen zärtlichen sinnlosen Tätigkeiten» – oder beim Gedanken an die ausladenden Brüste seiner Mutter. Seine Ausführungen münden in der schlichten Erkenntnis: «Klaglos gestand ich mir ein, dass es mir vermutlich nicht gelingen würde, mein Leben zu überwinden.»
Wilhelm Genazino
«Bei Regen im Saal»
160 Seiten
(Hanser 2014).