Schwärmen Leute von ihrem Feriendomizil, taucht über kurz oder lang ein Südbalkon auf. Dort befindet sich Ruth Amsel nicht mal in ihren kühnsten Träumen. Ferien kann sie sich als Langzeitarbeitslose kaum leisten, ihr Alltag spielt sich auf 56 Quadratmeter ab, in einer Hochhaussiedlung mit Raufasertapete, Laminat und Westbalkon. Aber sie verfügt über das, was sich mancher für ein, zwei Monate wünschen würde: Jede Menge Zeit.
Zartbitteres Vergnügen
Der Rest ist ziemlich trist: Eine unterkühlte Beziehung zu ihrem Partner Raoul, ein abgebrochenes Medizinstudium sowie ein zurückliegender, grundsätzlich gescheiterter Einstieg in die Berufswelt bei der Annoncenannahme für Todesanzeigen. Die Protagonistin versüsst sich den wöchentlichen Bittgang zur «Gesellschaft für Wiedereingliederung» mit kuriosen Ausflügen: Sie späht Nachbarn aus, Patienten einer Klinik und Zufallsbegegnungen. Mit ihrer Freundin Maja trifft sie sich in Möbelgeschäften, da man dort keinen teuren Kaffee bestellen muss. Die frisch diplomierte Existenzberaterin kann es jeweils kaum erwarten, von Ruths Absurditäten zu hören. Diese wiederum ist überzeugt, dass Maja und Raoul ein Verhältnis haben, wagt aber nicht, die beiden mit ihrem Verdacht zu konfrontieren. Das Chaos scheint vorprogrammiert – bis zur Begegnung mit Pawel. Allein die Annäherung der vier Hände ist filmreif.
Diese Geschichte, still und unauffällig, birgt in sich eine gewaltige erzählerische Kraft. Sie schürt auch Vorurteile, denn eigentlich könnte sich Ruth bei der Stellensuche ein bisschen anstrengen . . . Mit der Zeit entwickelt man indes Sympathie für die Streunerin und kann sich ihrer Flippigkeit kaum entziehen, den messerscharfen Analysen und der Sozialkritik.
Offener Schluss
Die Hauptperson ist verletzlich und einnehmend, die Handlung variantenreich. Die Figuren sind in einer schnörkellosen Sprache treffend gezeichnet. Oft blitzt der Galgenhumor durch, präzise dort, wo die menschlichen Schwachstellen liegen. Wer weiss schon, dass sich das schlechte Gewissen nach dem Kauf eines von ausgebeuteten Kindern gefertigten Polyesterfetzens mit der ersten 30-Grad-Wäsche herausspült? Das Cover mit zwei Pudelköpfen verweist auf die Abstecher ins Tragisch-Komische.
Der Debütroman von Isabella Straub ist in einem fiktiven Wien angesiedelt: Von den urbanen Verhältnissen her austauschbar, birgt die Lektüre mit zunehmender Lesedauer Suchtcharakter. Selbst das Romanende wartet mit einer Überraschung auf – einem abrupten Aus-Fertig. Für wen ist dieser Ausgang bestimmt? Für die Fantasie des Lesers, eine Fortsetzung oder gar die Hoffnung, dass uns in irgendeiner Grossstadt ein schräger Vogel begegnet, dessen Weltsicht ebenso Aufschlussreiches wie Amüsantes verspricht? Denn nach der Lektüre stellt man fest: Hinter jeder Ecke lauert ein Abenteuer.
Isabella Straub
«Südbalkon»
254 Seiten
(Blumenbar 2013).
Karin Unkrig