Mit absichtsvoller Diskretion hat Radio SRF 3 nach zehn Jahren seinen «Blues Special» abgeschafft oder für den Moment auf Eis gelegt. Wer das Schweizer Konzertprogramm in diesem Frühjahr verfolgt hat, wird sich wundern: Da war Blues so präsent und angesagt wie eh und je, von grossen Alten wie John Mayall und Robert Cray bis zu spannenden Newcomern wie Gary Clark Jr. und Joe Bonamassa, ganz zu schweigen von den landauf, landab immer beliebteren Blues-Festivals. Der Blues, eine aussterbende Musik? Als eigentlicher Wurzelstock praktisch aller modernen Pop-Stile (von Jazz und Rock bis Soul und Hip-Hop) erweist er sich als ungebrochen lebendige und vielfältige Szene.
Niemand wird bestreiten, dass das Service-public-Radio sein Angebot laufend erneuern und verjüngen muss. Aber der Blues scheint mir ein ungeschicktes Beispiel, um daran ein Exempel zu statuieren. Wie sagte doch jener famose französische Minister Napoleons? «C’est pire qu’un crime, c’est une faute!» («Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler!»)
Gewiss hat sich die Palette der Musik-Specials beim ehemaligen Radio DRS 3 immer wieder verändert. Der Blues war lange nur im Rahmen des «Black Music Special» abgedeckt, aber mit der Evolution von R&B und Hip-Hop wurde es schwierig, das ganze Spektrum der afroamerikanischen Musik in einer einzigen Sendung adäquat zu verfolgen. Darum wurde 2003, auf Anregung des damaligen Programmplaners Heinrich Anker, ein separater «Blues Special» eingeführt. Braucht es diese Sparte jetzt plötzlich nicht mehr? An ihrer Stelle gibt es die neue Sendung «Pop Routes», welche die oft kuriosen und verschlungenen Wurzeln aktueller Popmusik illustrieren soll. Eine gute Idee, aber kein Ersatz für die regelmässige Abbildung einer so zentralen Sparte, wie sie der Blues darstellt.
Wenigstens gibt es nach wie vor, wenn auch unterdessen auf SRF 1, einen exzellenten und im deutschen Sprachraum ziemlich einzigartigen «Country Special». Und es gibt auf SRF 3 neben «Black Music», «Rock» und «World Music» seit ein paar Jahren sogar einen eigenen «Reggae Special». Nicht zu vergessen: der unterdessen vierstündige «CH Special», der die ganze Vielfalt der neuen Schweizer Pop-Produktion widerspiegelt. Aber wo, bitte sehr, wird das geneigte Publikum weiterhin und kontinuierlich in Sachen Blues informiert? Wenn die grossen Alten wie B.B. King oder Buddy Guy sterben, wird das wohl im Tagesprogramm ein Thema sein. Aber wie erfährt die musikinteressierte Öffentlichkeit von neuen Entwicklungen in der Blues-Welt – zwischen Folk-Wurzeln, modernem Soul-Blues und Americana? Hat das alles im Black Music-Kontext Platz? Doch nicht im Ernst – dafür hat sich R&B/Hip-Hop viel zu weit Richtung Techno-Disco entwickelt, das alles ist nicht mehr so leicht auf einen Nenner zu bringen.
Natürlich erfahren die technisch versierteren Blues-Fans längst alles, was sie brauchen, im Internet auf spezialisierten Webseiten wie www.bluesnews.ch. Ein gefährliches Argument, denn das würde heissen, dass Radio nicht mehr so wichtig ist für eine seriöse Kulturinformation. Wir alle sind ja tatsächlich nicht mehr so dringend angewiesen auf das, was öffentliches Radio einer breiteren Allgemeinheit vermittelt, da gibt es genug andere Kanäle. Aber ist es nicht nach wie vor die Aufgabe und Chance von SRF 1/2/3, gerade solche Spezialangebote aufrechtzuerhalten und als kritischer, kompetenter und zugleich allgemein zugänglicher Filter zu wirken inmitten der «neuen Unübersichtlichkeit» der digitalen Musik- und Informationsflut?
Statt einzelne, genrespezifische Specials für bestimmte Publikumssegmente wären auch offenere, breitere Sendekonzepte denkbar, tägliche «Pop Routes» sozusagen, wo jeweils rasch auf Neuerscheinungen und die ganze einschlägige News-Flut reagiert werden könnte. So wie uns das die Sendung «Sounds!» im Indie-Bereich schon lange vormacht. Aber auch die Hörsicherheit ist nicht zu vergessen: Vielleicht grenzen genrespezifische Specials-Formate jeweils ein paar Nicht-Liebhaber einer bestimmten Sparte aus, aber umgekehrt gehört gerade die An- und Einbindung einer aktiven und engagierten Fan- und Konzertszene – wie sie der «Country Special» so erfolgreich praktiziert und beweist – zu den dankbarsten Formen medialer Publikumsbindung.
Wer nur auf die Einschaltquoten schaut, macht einen Fehler: Mit Zahlen lässt sich, gerade am Abend, alles und nichts beweisen. Da ist mit Radio bekanntlich eh nicht viel zu holen, und die einzige Chance besteht darin, Einzigartiges zu bieten. Wer erinnert sich noch an François Mürners frechen Slogan von der «Sendung, die euch vor dem Fernsehprogramm rettet»? Etwas mehr von diesem Mut wäre der aktuellen Generation von Radioverantwortlichen zu wünschen. Statt Abbau wäre jetzt Ausbau angesagt: Nicht weniger, sondern noch mehr Specials, noch mehr Vielfalt, noch mehr «special interest»: Blues, Folk, Americana, Chansons, Cantautori, und warum eigentlich nur zwei knappe Stunden «World Music» für den ganzen, immensen Rest der musikalischen Welt?
Wenn «Public Radio» eine politische Existenzberechtigung haben soll, dann nicht mit der Konkurrenzierung austauschbarer Lokalradioformate, sondern mit der Bedienung eines Publikums, das von seinem Radio zu Recht mehr erwartet als leicht verschieden ausgerichtete Begleit- und Laufprogramme. Mehr Kontext, mehr Sinnzusammenhang, mehr neue und vielfältige Musik. Die Idee wäre doch, ein breiteres Publikum mit Neuem, Unerhörtem zu konfrontieren – wenn nicht gar mit der eigenen Leidenschaft für alle Arten von Musik zu infizieren. Dass der «Blues Special» auf der Webseite www.srf.ch noch nicht ganz aus der Liste der Sendungen verschwunden ist, macht ein bisschen Hoffnung: Schliesslich gäbe es genügend verfügbare Sendeplätze dafür – egal auf welchem Kanal.
Martin Schäfer
Der 66-jährige Martin Schäfer war von 1976 bis 2013 Musikredaktor bei Schweizer Radio DRS beziehungsweise SRF. 2004 erhielt er mit seinem Team den Zürcher Radiopreis für die Serie «50 Jahre Rock ’n’ Roll», 2007 den Swiss Blues Award. Er schreibt für «NZZ» und kulturtipp, gibt öffentliche Vorlesungen in Basel und St. Gallen. 2008 erschien bei Suhrkamp seine Biografie über Johnny Cash.