Genaueres erfährt man nicht: Wer sind die drei Kinder, die im Roman «Das Mädchen mit dem Fingerhut» eine Schicksalsgemeinschaft bilden? Woher kommen sie, die sich im Winter in einer fremden Welt durchschlagen? Fremd ist ihnen die Sprache. Selbst untereinander können sie sich mit Worten kaum verständigen.
Drei Kinder sind auf der Flucht, sie suchen nach Essen, Obdach und Wärme. In einem Kinderheim begegneten sie sich und nahmen gemeinsam Reissaus. Das Mädchen, «der Grosse» mit dem Namen Schamhan und «der Kleine»: «Er heisst Arian, sagte der Grosse und drückte den Freund an sich, und der Freund lächelte. Wie heisst du? Sie wusste nicht, wie sie hiess. Yiza, sagte sie. So war sie genannt worden. Sie wusste, dass Yiza kein Name war. Das ist kein Name, sagte der Grosse.»
Zur Sprache finden
Der Vorarlberger Autor Michael Köhlmeier beginnt seinen novellenhaften, als «Roman» deklarierten Text so: «Dieser Mann war ihr Onkel. Sie wusste nicht, was das Wort bedeutet. Sie war sechs Jahre alt.» Der «Onkel» deponiert die Kleine in der Stadt, um eines Tages nicht mehr zu erscheinen. Das Mädchen ist auf sich allein gestellt. Es bettelt und übernachtet in einem Müllcontainer. Bis es aufgegriffen wird und ins Heim kommt. Dann die gemeinsame Flucht. Die Kinder übernachten im Wald, im Heuschober, einmal brechen sie in ein Einfamilienhaus ein – bis die Polizei sie erwischt.
Arian und Yiza kommen davon, finden Unterschlupf in einem alten Gewächshaus. Hier entdeckt eine begüterte, gutmeinende Frau Yiza in Arians Abwesenheit. Sie päppelt das kranke Mädchen auf, rettet ihm das Leben – und sperrt sie im Haus ein.
Aber die beiden Kinder finden einander wieder. Die Reise ins Unbestimmte geht weiter. Sie werden auch zur Sprache finden – «Hilf mir, sagte er in der Sprache, die nun ihre gemeinsame Sprache war, von der sie aber erst wenige Worte kannten, und manche kannte er, die sie nicht kannte, und viel mehr kannte sie, die er nicht kannte.»
Nicht zufällig erinnert der Titel von Köhlmeiers schmalem Roman an das traurige Märchen «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» von Hans Christian Andersen: im Erzählton auf kunstvolle Art schlicht, märchenhaft-entrückt – bei genauerer Betrachtung eben doch nur scheinbar. Vielmehr zeigt sich der Stoff von «Das Mädchen mit dem Fingerhut» realistisch und heutig, geradezu brandaktuell.
Die Geschichte geht ans Herz, ohne kitschig zu sein. Die Schicksalsgemeinschaft der drei Kinder berührt. Die Gegenwärtigkeit ist offensichtlich, Stichworte wie «Flüchtlingskrise» und «unbegleitete Minderjährige» drängen sich auf – auch wenn Köhlmeier sein Buch bereits vor den aktuellen Ereignissen geschrieben hat. Darüber hinaus bleibt dieser geglückte Roman von zeitloser, universeller Gültigkeit.
Buch
Michael Köhlmeier
«Das Mädchen mit dem Fingerhut»
140 Seiten
(Hanser Verlag 2016).