Österreich war dem Niedergang geweiht, als Hitler an die Macht kam. Während sich Mitteleuropa verdüsterte, verbrachte die kleine Liesl unbeschwerte Jahre in einem Wiener Villenviertel: Sie lebte in einer behüteten Welt, fernab des Schreckens, der sich nach und nach verbreitete. Nur am Rande fiel ihr auf, dass sich Wien veränderte – ab und zu gab sie einem Bettler etwas Kleingeld. Liesl Müller-Johnson beschreibt dieses Milieu in ihrer Autobiografie. Sie ist die Tochter der damals berühmten Wiener Kabarettistin Rosl Berndt.
Die Autorin gibt dem Leser einen historischen Einblick in das Leben dreier Frauen, Mutter Rosl, ihr eigenes als deren Tochter sowie Bronja, ihre Grossmutter. Die Frauen jüdischer Abstammung konnten dank guten Beziehungen und ihrer Bekanntheit der nationalsozialistischen Bedrohung entkommen.
Rosls Karriere
Rosl kam 1903 zur Welt. Der künftige Kinderstar wuchs in der Wiener Weintraubengasse bei ihrer alleinerziehenden Mutter Bronja auf, umgeben von Künstlern aus der Unterhaltungsszene. Sie war extrovertiert, neugierig und hatte eine rasche Auffassungsgabe. Eine Kinderrolle in einer Operette machte die kleine Rosl über Nacht berühmt. Mutter Bronja war stolz auf Rosl und «begleitete ihre Tochter zu jeder Vorstellung».
Zu ihrer Enkelin Liesl hatte Bronja ein enges Verhältnis, verhätschelte sie unaufhörlich. Rosl dagegen war in erster Linie Künstlerin, für sie stand stets die Karriere im Mittelpunkt.
Rosl wurde zum Wiener Kabarettstar der Zwischenkriegszeit, bekam unzählige Bühnenengagements und verdiente bald mehr als ihre Mutter Bronja, die als Hausmeisterin arbeitete. Obwohl sie Freude hatte an ihrem Beruf, ging der Erfolg nicht spurlos an ihr vorbei: Rosl litt an Schlafstörungen, hatte häufig Wutausbrüche und war sehr launisch. Dies bekam später auch ihre Tochter zu spüren. «Ich hatte Angst vor meiner Mutter, wenn ihr Zorn ausbrach. Denn meine Mutter war unberechenbar.»
Nach dem Ersten Weltkrieg sehnten sich die Menschen nach Unterhaltung. Als junges Mädchen heiratete Rosl den Besitzer des Wiener Kabaretts «Simpl», Karl Müller. Diese Verbindung war für ihre Karriere vorteilhaft. Champagner und Kaviar gehörten von da an zu ihrem Alltag. Und «Bronja platzte geradezu vor Zufriedenheit. Sie hatte ihr wichtigstes Ziel erreicht: Rosl hatte eine gute Partie gemacht.»
Mit 19 Jahren brachte Rosl Tochter Liesl zur Welt. Oft sah das Kind ihre berühmte Mutter nicht, da diese von einem Auftritt zum anderen jagte. Liesls Eltern stritten häufig und lebten über ihre Verhältnisse: «Meine Mutter nahm jedes Engagement an, um uns über Wasser zu halten.»
Karrieresprung
Die Eltern liessen sich scheiden, als Liesl noch ein Kind war. Bronja, Rosl und Liesl lebten danach für kurze Zeit unter einem Dach: «Sie ist ein Star, und sie kann ihrer Mutter so viel Geld schicken, dass diese mit der kleinen Liesl ein bequemes, sorgenfreies Leben führt.» Rosl schaffte im Kabarett- und Chanson-Milieu den Sprung ins deutschsprachige Ausland. Liesl wuchs in derselben Umgebung auf wie ihre Mutter, hatte die gleiche impulsive und aufgeweckte Art: «Ich war eine verwöhnte junge Dame, gewohnt, meinen Willen zu bekommen – ausser wenn es um Muttis Interessen ging, die natürlich stets Vorrang hatten.» Als Grossmutter Bronja bei einem Unfall starb, bekam Liesl ein Kindermädchen.
Als Hitler an die Macht kam, verdüsterten sich Rosls Karrierechancen: «Sie war ein Naturtalent und gab sich damit zufrieden. Es fehlte ihr der Biss derjenigen, die sich durchkämpfen mussten.» 1936 zog Rosl mit ihrer Tochter und einem neuen Partner nach Bukarest. Dort blieben sie zwar lange vor Terror und Verfolgungen verschont, Rosls Karriere hingegen war vorbei. Liesl lernte in Rumänien ihren langjährigen Partner Costin Cioroianu kennen, musste wegen Bombardements mit ihrer Mutter und deren Freund aufs Land flüchten und arbeitete nach der Matura für einen Journalisten.
1947 migrierte sie nach England, heiratete einen Fliegerhauptmann und kam so zu einer geordneten Existenz fernab ihrer Heimat. Sie schloss sich einer Amateurtheatergruppe an, wurde Schauspielerin und bekam Tochter Christina. 1960 kam die geschiedene Rosl zu Liesl nach England.
Überleben
Diese Autobiografie sticht aus dem breiten Angebot ähnlicher Schicksalsgeschichten heraus, denn sie berührt existenzielle Fragen: Wie konnte jemand nur am Rande bemerken, dass sich die Welt mit den Nationalsozialisten zusehends verdüsterte? Wegschauen scheint hier eine Art Überlebensstrategie gewesen zu sein – die glücklicherweise erfolgreich war.
Liesl Müller-Johnson
«Rosl und ihre Tochter»
253 Seiten
(Milena 2014).