Dass man bei amtlichen Terminen nahezu immer zu abartigen Unzeiten aufgeboten wird, ist uns allen bekannt. Aber als ich tatsächlich um 5.10 Uhr in der Früh auf das Amt für Ausbildungsbeiträge bestellt wurde, war ich dann doch ziemlich verdutzt. Doch ich war nun mal auf den angeforderten Betrag angewiesen, und so betrat ich, sogar fünf schweizerische Minuten zu früh, den penibel sauber gehaltenen, grauen Spannteppich des Entrees, worin, neben einer stark überdüngten Anthurie, eine einsame Aufrufanlage thronte, bei welcher man sich eine Nummer ziehen sollte. Ansonsten war der Raum leer. Der Anmeldeschalter war noch nicht geöffnet, und die Anzeigetafel darüber zeigte in grossen Leuchtziffern vier Nullen an. Ich war wohl der erste Kunde an diesem dämmrigen Morgen.
Da ich nun mal nichts Besseres zu tun hatte, trat ich zur Aufrufanlage hinüber und drückte auf den grünen Knopf, um mir prophylaktisch schon mal meine Nummer zu ziehen. Einige verschlafene Glückshormone flitzten durch meine Brust, als tatsächlich die Nummer «0001» auf meinen Zettel gedruckt wurde. Sorgfältig faltete ich das kleine Blatt und steckte es in die rechte Hosentasche. Draussen erlosch gerade die Strassenbeleuchtung.
Endlich erschien hinter dem Schalter eine Angestellte. Sie setzte sich auf ihren Bürostuhl, nahm einen eiligen Schluck von ihrem Pappbecherkaffee, und schliesslich wurde die Stille von einem schrillen Ton der Anzeigetafel unterbrochen. In grossen Leuchtziffern stand da nun: «0002».
Über diesen kleinen Fail der Technik amüsiert, bewegte ich mich gemütlich auf den Schalter zu. Der Spannteppich quietschte bei jedem Schritt aufdringlich, und zu dieser so schon absurden Geräuschkulisse gesellte sich nun auch noch der Klang der öffnenden Eingangstüre, und ich sah aus dem Augenwinkel die Silhouette eines eintretenden Herrn. Die Empfangsdame begrüsste mich mit einem für diese Uhrzeit etwas zu lauten «Grüeziii!» und dehnte dabei das «i» etwas länger als nötig, als suche sie die möglichst unangenehme Frequenz ihrer Stimme. Dann stellte sie in müder, absteigender Melodie die Standardfrage, wie sie mir denn behilflich sein könne. Ich schenkte ihr ein neutrales Lächeln und griff nach dem Brief des Amtes, welchen ich in meiner Handtasche bereitgelegt habe. Ich schob ihr das Blatt zu und wollte gerade mit der Erklärung beginnen, weshalb ich hier sei, als mich von hinten jemand anstupste.
«Entschuldigen Sie, aber ich bin an der Reihe», überrumpelte mich der gerade eben eingetretene Herr und zeigte, die Augenbrauen hochgezogen, auf den kleinen Zettel in seiner Hand. «Nummer zwei ist dran. Und das bin ich.» Etwas verdattert suchte ich den Blickkontakt mit der Angestellten, in der Hoffnung, eine Verbündete zu finden. Sie erwiderte zwar den Blick, aber ihr Ausdruck war so gleichgültig, dass ich diese Taktik sofort wieder verwarf. Stammelnd begann ich dem Herrn zu erklären, dass ich vorhin die Nummer eins gezogen habe und diese aber gar nicht erst aufgerufen worden sei, und dass ich deswegen, auch weil bis zu diesem Zeitpunkt noch kein anderer Kunde hier gewesen sei, darauf verzichtet habe, eine neue Nummer zu ziehen. Während ich dies ziemlich umständlich ausformulierte, suchte ich nervös nach meinem Beweisstück: dem zusammengefalteten Zettel. Der Herr schien nicht wirklich verstanden zu haben, was ich zu erklären versuchte, denn er wiederholte nun seinen Satz; etwas langsamer und deutlicher, als würde ich eine Fremdsprache sprechen. «Nummer 2 ist dran. Und das bin ich.» – «Ja, das verstehe ich», versuchte ich nochmals Klarheit zu schaffen, «aber Sie haben doch selber gesehen, dass ich vor Ihnen in diesem Gebäude war. Also bin ich es, der an der Reihe ist. Es war lediglich ein technisches Problem, irgendwie wurde die Nummer 1 ausgelassen.» Ein weiteres Mal versuchte ich die Angestellte per Augenkontakt auf meine Seite zu kriegen. Diesmal reagierte sie auch auf meinen Blick, da sie sich wohl ihrer Verantwortung in dieser Situation bewusst wurde. Leicht zögernd atmete sie ruckartig ein und sagte dann aber recht bestimmt: «Das Nummernsystem funktioniert eigentlich einwandfrei. Können Sie uns denn nicht Ihren Zettel mit der Nummer eins vorweisen?»
Entnervt schnaubte ich und durchsuchte ein zweites Mal alle Hosen- und Jackentaschen. Da ich nicht fündig wurde, überprüfte ich auch noch den vorhin zurückgelegten Weg, in der Hoffnung, den kleinen Zettel da liegen zu sehen. «Hören Sie», sagte der Herr bestimmt, «in der Zwischenzeit hätte sich meine Sache schon längst erledigt. Ziehen Sie sich doch einfach eine Nummer, und warten Sie eine Minute, dann sind Sie dran.» Da ich keine Lust mehr auf diesen unnötigen Konflikt hatte, packte ich den Brief wieder in meine Handtasche, gab wie ein Zirkusdirektor mit einer übertriebenen Geste den Schalter frei, nickte der Dame zu und murmelte: «Die Nummer eins bleib ich trotzdem.» Aber sie hatte meine Punchline bereits mit ihrer, nun an den Herren gerichteten Standardfrage, übertönt.
Ich ging also nochmals zur Aufrufanlage und haute, zugegebenermassen ein wenig fester als nötig, auf den grünen Knopf. Aber der Automat schien keine weitere Nummer herausgeben zu wollen. Die Angelegenheit des Herrn war tatsächlich schnell erledigt, und so hatte ich gar nicht die Zeit, mich gross darüber aufzuregen. Ich winkte ab und ging, begleitet von einem weiteren Signal der Anzeigetafel, zum Schalter zurück. «Der Automat hat wohl kein Papier mehr. Da kommt keine Nummer mehr raus», informierte ich die Frau, die mit vorwurfsvollem Blick reagierte und schnaubte: «Natürlich, wenn man so intensiv draufhaut.» – «Nein, nein. Ich bin davon überzeugt, dass die Papierrolle leer ist.» Ich legte, wie vorhin auch schon, den Brief des Amtes vor sie und begleitete die Geste mit der Erklärung: «Ich habe einen Termin um 5.10 Uhr, können Sie mich jetzt bitte anmelden?»
«Die Nummer drei ist dran», beharrte sie trocken. Ich spürte, wie sich meine Eingeweide zusammenzogen und sich eine sanfte Wut anstaute. Und während ich mir verschiedene Sätze in meinem Kopf zurechtlegte, um ihr meine Wut in rhetorisch überlegenem Deutsch an den Kopf zu werfen, tippte mich von hinten eine alte Oma an, die sich weiss Gott wann durch die Eingangstüre geschlichen hatte, fuchtelte mit einem kleinen Zettel in der Hand und krächzte: «Nummer drei ist dran. Und das bin ich. Schäme dich, junger Mann!»
Laurin Buser
Der 1991 geborene Laurin Buser stammt aus einer Schweizer Schauspielerfamilie. Mit 16 Jahren gewann er die Schweizer U20-Poetry-Meisterschaften. Seitdem führt er ein wildes Leben zwischen internationalen Poetry-Tourneen, eigenen Bühnenstücken (»Wunder. Welt. Wort«) und Engagements als Schauspieler. Er lebt in Basel.