Anfangs bewegt sich der Leser in Jens Steiners kühn entworfener Romanwelt auf sicherem Boden: Der Student Paul lebt in den Tag hinein, weiss nicht recht, in welche Richtung, was überhaupt er hier soll. Mit seinem einzigen Studien-Freund Magnus bildet er ein eingespieltes Team: «Ich bin dafür da, dich zu beschäftigen, während du meine Unfähigkeit zur Tat aufrechterhältst. Du bist der Handlanger meiner Lethargie», bringt es Magnus auf den Punkt. Und so setzt Paul einen politisch motivierten Plan seines Freundes in die Tat um: Als der Medienunternehmer Kudelka an der Uni Zürich einen Vortrag hält, manipuliert Paul die Tonanlage, sodass vor versammelter Mannschaft eine früher gehaltene Rede ertönt, welche Kudelkas Verlogenheit enthüllt.
Mit sichtlichem Spass
Der kleine Sabotage-Akt ist bald vergessen, doch Pauls Welt ist aus den Fugen geraten. Er wird in einen Strudel reingerissen, in dem Realität, Traum und Vorstellung verschwimmen. Paul findet sich in einer fremden Wohnung wieder. Im Fernsehen läuft die Fahndung nach einem «jungen Mann mit unauffälliger Vergangenheit», der Kudelka entführt hat: Paul erkennt im Fahndungsbild sich selbst. Für zusätzliche Verwirrung sorgt der Homunkulus – ein gnomähnliches Wesen, das immer wieder auftaucht und ihm nutzlose Ratschläge erteilt. Dafür bietet ihm die schöne Nachbarin unerwartet Unterstützung an und lockt ihn nach Marseille. Dort laufen die Ereignisse vollends aus dem Ruder, und Paul wird mit seiner Familiengeschichte konfrontiert.
Mit sichtlichem Spass hat der 39-Jährige diese verrückte Geschichte mit philosophischem Einschlag entwickelt. Einfach macht er es seinen Lesern aber nicht: Wie der Protagonist selbst, muss sich die Leserschaft in der verschachtelten Geschichte und auf mehreren Wahrnehmungsebenen zurechtfinden – bis zur überraschenden Auflösung. Beim Treffen in Zürich erzählt Steiner, warum ihn beim Schreiben das Grenzüberschreitende reizt.
kulturtipp: Existiert der Homunkulus nur in Pauls Kopf? Meint es die geheimnisvolle Schöne gut mit Paul? Man stellt sich beim Lesen Ihres Buchs viele Fragen. Führen Sie den Leser absichtlich in die Irre?
Jens Steiner: In diesem Buch war das meine Hauptabsicht. Ich wollte Spass haben beim Schreiben. Und ich hoffe, dass es den Lesern ebenso ergeht und sie nicht frustriert sind. Es ist ein grosses Spurenlegen und -suchen; ein Spiel mit literarischen Spannungselementen, die ich immer wieder ironisch umstosse.
Was muss der Leser für den Roman mitbringen, dass er beim Lesen ebenso Spass hat wie Sie beim Schreiben?
Das Interesse an der Auseinandersetzung mit der Welt. Die Freude am Spielerischen, Surrealen. Ich spreche Leser an, die sich gerne überraschen lassen und die nicht mit einer bestimmten Erwartung an ein Buch gehen.
«Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.» Das ist das Motto Ihrer Geschichte. Schopenhauers Philosophie taucht in ihrem Roman in unterschiedlicher Form auf. Welchen Bezug haben Sie zu ihm?
In meinem Philosophie-Studium ist er mir flüchtig begegnet. Ich wollte schon lange ein Buch über die Willensfreiheit schreiben. Das wurde aber unlesbar. Im Roman hat es nun Spuren davon. Paul experimentiert mit dem freien Willen, der vollkommenen Offenheit einer Situation. Das Schopenhauer-Zitat am Anfang ist Teil der ganzen Spielanordnung, man kann es ernst nehmen, muss aber nicht.
Was fasziniert Sie an der Figur des Homunkulus; dieses Wesen im Kopf, das die Philosophen beschäftigt? Kennen Sie ihn aus eigener Erfahrung?
Ich kenne ihn persönlich nicht, und ich hoffe, er taucht auch nie auf (lacht). Er hat in der Philosophie eine ganz unterschiedliche Rolle gespielt. Ich wollte ihn persönlich auftreten lassen. Im Buch sieht er ja aus wie ein Gollum. Ich fand die Idee reizvoll, dass eine Lieblingsmetapher der Philosophen plötzlich ein Giftzwerg wird. Der Homunkulus ist irritierend, wenn er auftritt. Seine Ratschläge sind unbrauchbar.
Schon in Ihrem ersten Roman «Hasenleben» schreiben Sie von Menschen auf der Flucht vor sich selbst. Was beschäftigt Sie so an diesem Thema?
Sie sind heimatlos, ohne Kontext. Sie wollen und können sich nicht festlegen. Mich interessieren Figuren, die nicht so fest verankert sind. Vielleicht hat dieses Interesse auch damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin – in einem Haushalt mit einer alleinerziehenden Mutter. Und in einem Dorf mit intakten Familien rundherum, die wissen, wer sie sind. Bei uns war das diffus, nicht festgelegt. Auch später in Zürich bin ich jahrelang von Wohnung zu Wohnung gereist, war nie länger als ein Jahr an einem Ort. Das war eine Art Odyssee. Und das schlägt sich vielleicht in meinen Büchern nieder.
Ist das Schreiben für Sie ein Erkenntnisinstrument?
Ja, es ist die Beschäftigung mit philosophischen Fragen und mit dem Leben in der heutigen Zeit. Aber das Instrument gehorcht mir nicht immer. Es kippt oft ins Spiel, ins Surreale, ins Absurde. Diese Seite wollte ich im neuen Buch ausleben. Aber wie wir von Dürrenmatt wissen, kann das Groteske sehr wohl Erkenntnisinstrument sein. Natürlich fliesst beim Schreiben auch Persönliches ein. Aber generell möchte ich eher ablenken von mir selbst; ich finde mich selbst nicht so interessant, dass ich ganze Bücher darüber schreiben möchte.
Jens Steiner
Jens Steiner ist 1975 in Zürich geboren. Nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Vergleichenden Literaturwissenschaft hat er als Lehrer und Lektor gearbeitet. Sein Debütroman «Hasenleben» und sein Zweitling «Carambole» wurden für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Für «Carambole» erhielt er 2013 den Schweizer Buchpreis. Der Autor lebt in Zürich. Zurzeit schreibt er an zwei neuen Werken – eines davon ein Kinderbuch.
Buch
Jens Steiner
«Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit»
240 Seiten
(Dörlemann 2015).
Hörbuch
Supermänner
Sprechende: Rolf Becker, Doris Wolters, Dinah Hinz, Hanspeter Müller-Drossaart u.a.
1 CD, 55 Minuten
(Christoph Merian 2015).
Lesungen
Di, 10.3., 19.30 Literaturhaus Zürich
Do, 19.3., 19.30 Bibliothek Universität St. Gallen
www.jenssteiner.ch