Die vier Frauen strampeln und strampeln auf ihren Velos, die Räder rotieren und doch kommen sie nicht vom Fleck. Ganz wie Harry Widmer Junior, der sich immer gewünscht hat, etwas Besonderes zu sein, und sich schliesslich doch nicht abhebt aus der kleinstädtischen Masse. Und dabei hatte es so viel versprechend begonnen: Aus dem Fahrradgeschäft seines Vaters irgendwo im Schweizer Mittelland hat Harry Widmer Junior einen Mountainbike-Tempel errichtet, mit dem er sich Pluspunkte bei den Frauen verspricht. Er spielt den grossen Casanova, der Geld im Überfluss hat – und landet bald auf dem harten Boden der Realität. Als er die thailändische Nachtclubbesitzerin Nancy schwängert und bei seinen Gläubigern aufläuft, flüchtet er nach Mexiko. Dort lebt er im ähnlichen Stil weiter: Ein Surfshop am Meer soll es richten.
Spiess umgedreht
Doch irgendwann sind das Heimweh und die Sehnsucht nach Nancy und dem gemeinsamen Kind stärker. Nach fast sieben Jahren kehrt er zurück in die Schweiz und muss feststellen, dass am längeren Hebel noch immer die einflussreichen «Kleinstadt-Sauhunde» sitzen.
Der Roman «Glaubst du, dass es Liebe war?» des Oltner Bestseller-Autors Alex Capus spielt im typisch kleinstädtischen Milieu, wo die Männer an den Stammtischen die Stricke ziehen. Sein Protagonist ist ein Möchtegern-Frauenheld, ein «Hallodri», der die Verantwortung scheut und mit seiner Suche nach dem Glück doch auch ein bisschen Sympathie weckt. Alex Capus lässt dem Theater Marie für die Bühnenadaption freie Hand. Die beiden Co-Regisseure Olivier und Patric Bachmann nähern sich dem Antihelden aus besonderer Perspektive: Nebst Ladislaus Löliger in der Rolle von Harry beleuchten vier Schauspielerinnen das Leben des Taugenichts. Im steten Wechsel zwischen erzählerischen und szenischen Elementen, zwischen verschiedenen Figuren und Funktionen, stellen sie seine Geschichte dar. «Harry geht ja unverfroren mit der Damenwelt um. Die vier Schauspielerinnen drehen den Spiess um, treiben ihn durch seine eigene Geschichte und zeigen, wie es ihm wirklich ergangen ist, indem sie seine Stärken und Schwächen offenlegen», sagt Patric Bachmann.
Rückblende
«Die Leichtigkeit in Capus’ Sprache sowie die zahlreichen Dialoge im Roman funktionieren im Theater bestens», meint Olivier Bachmann. Für die Bühnenfassung halten sie sich an den Originaltext, nur die Chronologie haben sie verändert: Die Schauspielerinnen erzählen in einer Rückblende aus Harrys Leben. Capus’ recherchegestützte Arbeitsweise, die in seinen historischen Romanen zum Zug kommt, wendet das Theater Marie oft auch selbst in seinen Inszenierungen im Bereich des Dokutheaters an. In der aktuellen Produktion bleiben sie zwar im Reich der Fiktion, aber im Hintergrund schwingt immer ihre Auseinandersetzung mit dem Kleinstadtmilieu mit.
Beim Probenbesuch im Theater Marie in Suhr AG ist Harry soeben aus Mexiko zurückgekehrt und stellt ernüchtert fest: «Das Städtchen hat sich überhaupt nicht verändert, kein bisschen, nicht im Geringsten.» Auf dem Friedhof, wo er das Grab seiner Eltern besucht, trifft er auf einen Ortsansässigen, der ihn mit neugierigen Fragen belästigt, gespielt im schnellen Wechsel von drei Schauspielerinnen. Dann schwingen die Frauen sich wieder auf ihre Velos und erzählen im Takt des Rädersurrens Harrys Geschichte. Bis Schauspielerin Judith Cuénod aus der Gruppe ausbricht, um am Rand der Bühne einen schweizerdeutschen Rap zu Reggae-Rhythmen zum Besten zu geben, der nochmals die miefige Atmosphäre der Kleinstadt einfängt (Musik: Pascal Nater).
Fragen des Lebens
Inwiefern können wir unser Leben selbst beeinflussen? Wie weit können wir uns verändern – oder bleiben wir trotz
aller Anstrengungen nicht doch immer dieselben? Diese Fragen stellt das Theater Marie in seiner Inszenierung. Harry Widmer Junior, der aus der beengenden Provinz ausbricht, um sich selbst neu zu erfinden, und dann doch reumütig heimkehrt, ist der Prototyp dafür. «Wir erzählen vom Treten an Ort, von Leuten, die sich abarbeiten und trotzdem an der gleichen Stelle bleiben», sagt Olivier Bachmann.
Capus’ Titelfrage: «Glaubst du, dass es Liebe war?», rückt dabei etwas in den Hintergrund. Ihnen gehe es eher um Harrys Biografie und das kleinstädtische Milieu, halten die beiden Regisseure fest. Die Frage nach der Liebe stellt sich erst am Schluss, als Harry auf seine ehemalige Geliebte Nancy trifft. Diese hat sich aber inzwischen auf ihre eigenen Geschäfte konzentriert und legt die gleiche Unverfrorenheit an den Tag wie Harry Widmer Junior vor seiner Flucht nach Mexiko.
Aufführungen
Harry Widmer Junior. Glaubst du, dass es Liebe war?
Mi, 16.10.–Fr, 25.10., 20.15 Theater Tuchlaube Aarau
Do, 7.11.–Sa, 23.11., 20.30 Theater Winkelwiese Zürich
www.theatermarie.ch
Buch
Alex Capus
«Glaubst du, dass es Liebe war?»
144 Seiten
(dtv 2005).