Ein grossartiger Verlierer
Nach Motiven von Balzac und Shakespeare legt der Kanadier Sébastien Pilote mit «Le démantèlement» einen Film über die Tragik eines liebenden Vaters vor.
Inhalt
Kulturtipp 14/2014
Urs Hangartner
Die Zeiten des Glücks sind längst vergangen für den Schaffarmer Gaby Gagnon (Gabriel Arcand). Ganz alleine bewirtschaftet er in der Region Québec seit 40 Jahren seinen Hof. Seine Frau hat ihn verlassen, und die beiden Töchter Marie und Frédérique sind nach Montreal gezogen. Kontakt zu ihnen hat Gaby praktisch keinen. Bis sich Marie meldet. Sie eröffnet dem Vater, dass sie sich von ihrem Mann trennen werde, den Kindern zuliebe aber ihr H...
Die Zeiten des Glücks sind längst vergangen für den Schaffarmer Gaby Gagnon (Gabriel Arcand). Ganz alleine bewirtschaftet er in der Region Québec seit 40 Jahren seinen Hof. Seine Frau hat ihn verlassen, und die beiden Töchter Marie und Frédérique sind nach Montreal gezogen. Kontakt zu ihnen hat Gaby praktisch keinen. Bis sich Marie meldet. Sie eröffnet dem Vater, dass sie sich von ihrem Mann trennen werde, den Kindern zuliebe aber ihr Heim nicht verlassen wolle. «Ich will das Haus behalten. Ich brauche Geld.» 200 000 Dollar, die sie nicht hat. Und die auch Gaby fehlen.
Doch der Vater will der Tochter unbedingt helfen. Am Telefon erklärt er ihr als Notlüge: «Ich muss nur noch ein paar Sachen erledigen, dann habe ich das Geld.» Es bleibt ihm nicht anderes übrig, als den Hof zu veräussern. Seinem eigenen Credo kann Gaby nicht mehr nachleben. Hatte er doch immer gesagt: «Einen Bauernhof gibt man weiter, man verkauft ihn nicht.» Jetzt will er es für Marie (Lucie Laurier) tun. Da trifft unverhofft Gabys jüngere, angeblich verlorene Tochter Frédérique (Sophie Desmarais) auf, die im fernen Montreal als Schauspielerin arbeitet. Sie gibt dem Vater Halt und Trost in der schweren Zeit. Frédérique gegenüber gesteht Gaby: «Ich habe immer gesagt, die Farm und das Land seien mein Leben. Das ist falsch. Du und Marie, ihr zwei seid mein Leben.»
Die letzten Einstellungen des Films gehören den Töchtern. Man sieht Frédérique bei Theaterproben und Marie im geretteten Haus mit ihren Kindern. Dann wieder Frédérique auf der Bühne: Man gibt «King Lear». Frédérique spielt den Part der jüngsten Lear-Tochter Cordelia. Wie im richtigen Leben.
Tragischer Held
Regisseur und Drehbuchautor Sébastien Pilote nimmt ausdrücklich Bezug auf den Roman «Le Père Goriot» von Honoré de Balzac. Im 1834/35 erschienenen Buch geht es um den Niedergang einer Vaterfigur, gezeichnet im gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeld der Industrialisierung. Der alte Goriot lebt nur für die Töchter und wird übel ausgenutzt. Balzac wiederum knüpfte bei Shakespeares «King Lear» an.
Sébastien Pilote wollte die Geschichte eines Abstiegs erzählen, «die zugleich eine Heldenerzählung ist. Die Geschichte eines grossartigen Verlierers.» Der Vater in seiner übergrossen Liebe als tragische Figur.
Der französische Filmtitel «Le démantèlement» hat mehrere Bedeutungen: Abbruch, Aufgabe, Auflösung, Auslöschung, Demontage. Sie alle treffen auf den Film zu. In der Geschichte über ein individuelles Schicksal, das universell wird. Gezeigt wird es in berückend schönen Kontrastbildern der kanadischen Landschaft.
Le démantèlement
Regie: Sébastien Pilote
Ab Do, 3.7., im Kino