Gott sei Dank gibt es la mamma. Kaum die Gabel in die Pasta getaucht, landen zwei rote Spritzer auf dem weissen Hemd des Festival-Intendanten Francesco Piemontesi. In einer Stunde steht das erste Sinfoniekonzert der 69. Settimane Musicali di Ascona an – 20 Minuten später steht Signora Piemontesi mit einem frischen Hemd im Ristorante.
Obwohl sich Piemontesi vor kurzem in Berlin eine Wohnung gekauft hat, ist der 31-jährige Pianist in seinem Geburtsort Locarno immer noch zu Hause. Nachdem er sich im Ausland durchsetzte, reissen sich die Schweizer Veranstalter um ihn. Und so kamen die Settimane Musicali di Ascona auf den eigenen «Sohn» zu: Sei unser künstlerischer Leiter!
Im Ausnahmezustand
Die Wahl Piemontesis geht mit Veränderungen einher – mit dem Übergang vom ehrenamtlichen Engagement in eine Stiftung und der Ausgliederung vom Tourismusbüro Lago maggiore im nächsten Jahr. Egal, er sagt: «Ich kümmere mich ums Programm. Basta.» Dafür hat der Settimane-Presidente Dino Invernizzi mehr Sorgen, als ihm lieb sind: Drüben in Lugano eröffnen sie 2015 einen modernen Konzertsaal, der das Konzertleben im Tessin stark verändern wird: Grosse Konzerte sind künftig an der Tagesordnung. Die Settimane Musicali di Ascona aber brachten jetzt den Ausnahmezustand in den Kanton: Anne-Sophie Mutter, Riccardo Muti, die Bartoli – da wurden selbst die Luganesi schwach und kamen über den Berg.
Eine weitere «Sorge» Invernizzis ist der Festivalintendant selbst … Piemontesi wagte 2013 gleich in seinem ersten Jahr ein Programm, das ausgerichtet war «auf Erneuerung und das Ausloten eher ungewohnter musikalischer Gebiete», wie es auf der Website heisst. Die Ausgabe 2014 ist bestimmt von «Erneuerung und Tradition». Wurde er zurückgepfiffen? Piemontesi lächelt und verneint. Tut es aber nicht, ohne ein langes Plädoyer für die Moderne zu halten. Er glaubt daran, dass ein mutigeres Programm ebenso viele Konzertliebhaber anlocken kann. «Warum soll ich hier nicht Musik von György Ligeti spielen?»
Das aktuelle Programm erweist sich als Kompromiss: etwas Schostakowitsch, etwas Bartók, etwas Prokofjew – ein paar Minuten Lutoslawski und Schönberg. Daneben viele Klassiker. Wer aber die Interpreten anschaut, wird erblassen: Krystian Zimerman, Elisabeth Leonskaja, Charles Dutoit – und zur Eröffnung Iván Fischer mit dem weltberühmten Budapest Festival Orchestra! In Locarno zeigen sie mit Brahms 3. und 4. Sinfonie ihre enormen klanglichen Fähigkeiten – prächtig, wie man in der Chiesa San Francesco vom Klang umrauscht wird.
Mehr Einheimische
Ein Viertel der Plätze bleibt leer. Waren es einst offiziell 50 Prozent Touristen und 50 Prozent Tessiner; insgesamt 6000 Besucher bei einem Budget von 1,021 Millionen Franken, sind nun mehr Tessiner zugegen. «Die Deutschen fehlen», sagt Präsident Invernizzi. Früher füllten sie die Kirche fast alleine, Werbung war nicht nötig. Da kann ein junger Festivalleiter nur guttun. Am liebsten hätte er eine Konzentration der Konzerte, damit noch mehr Kenner angezogen würden. Doch es ist wie in Gstaad: Die Sommer- wie die Herbst-Touristen sollen etwas vom Festival haben.
Ferienstimmung herrscht vor der Kirche: elegante Deutsche, leger gekleidete Deutschschweizer, adrette Tessiner. Von 40 bis 140 Franken kosten die Karten für die Sinfoniekonzerte, für die Debütkonzerte im Palazzo Sopracenerina 20 Franken. Die «Debüts» sind neu. «Ich habe gesehen, wie wichtig es ist, als junger Musiker Konzerte zu bekommen. Jetzt will ich etwas dafür tun.» Der viel beschäftigte Piemontesi spricht gelassen aus der komfortablen Situation heraus, dass er den Festivaljob gar nicht machen müsste.
Man tut in Ascona gut daran, mutig in die Zukunft zu schauen, anstatt sich auf die stolze, bis 1946 zurückreichende Vergangenheit zu berufen. Ob die Moderne oder Barock das neue Glück verspricht, kann sich ja noch weisen. Nächstes Jahr gibts die 70. Ausgabe der Settimane.
Tessinzauber
Zurück ins Konzert! Die Ungaren singen (!) als Zugabe ein Ständchen von Brahms – und weg sind sie. Locarno scheint danach wie ausgestorben. Beim Gang durch den Vicolo Chiossina hoch zum «Belvedere» steigt aber ein himmlischer Traubenduft in die Nase, der den Besucher von einem vermeintlich vergangenen Tessinzauber träumen lässt. Manchmal ist dieser Zauber noch spürbar, vielleicht auch am 6. Oktober, wenn Francesco Piemontesi Beethovens 1. Klavierkonzert in Locarno spielt.
CD
Mozart
Klavierwerke
(Naive 2013).
Konzert
Mo, 6.10., 20.30
Kirche San Francesco Locarno
London Royal Philharmonic Orchestra, Ltg.: Charles Dutoit
Francesco Piemontesi (Piano)
Settimane Musicali di Ascona
Bis 10. Oktober