Die Schweizer Schriftstellerin Angelika Waldis ist eine genaue Sprachbeobachterin. Abgenutzte Redewendungen und unpassende Metaphern sind ihr ein Graus. «Bricht das Herz? Ist doch gar kein Knochen», schreibt sie auf ihrer Homepage. Die Sorgfalt im Umgang mit der Sprache ist auch in ihren Büchern erkennbar. Sie erfindet poetische Bilder und ungewohnte Metaphern, und ihre Protagonistinnen haben meist ein Journal dabei, in das sie besondere Sätze oder amüsante Stilblüten schreiben.
Ohne Sicherheitsseil
So auch Waldis’ Heldin Jolie im 2008 erschienenen Roman «Die geheimen Leben der Schneiderin». «Man sollte nur am Gummiseil in die Vergangenheit springen», notiert sich die Schneiderin nebst den Bestellungen für ihr Nähatelier in ihrem Arbeitsjournal. Ein Ratschlag, den sie selbst allerdings nicht befolgt: Denn als Jolie in ihrer Vergangenheit gräbt, vergisst sie das Sicherheitsseil. Mit elf Jahren hatte sie ihren geliebten Bruder bei einem Badeunfall verloren – ein Ereignis, das die siebenköpfige Familie traumatisiert hatte. Jahrzehnte später gehen die Geschwister getrennte Wege, die Mutter fristet ihr Leben dement und verstummt im Altersheim und der Vater ist «zu Stein erstarrt».
Zum Achtzigsten der Eltern will Jolie dennoch ein Familienfest organisieren und alle zusammentrommeln. Dabei kommen die Erinnerungen an früher hoch. Sie verbeisst sich in die Vermutung, dass ihr Bruder Franz doch nicht tot ist und irgendwo ein neues Leben angefangen hat. Und sie beginnt, im Internet zu recherchieren, und macht sich auf die Suche nach dem tot geglaubten Bruder.
Wie in ihrem letztjährigen Roman «Aufräumen» und in «Einer zu viel» (2010) deckt die Autorin aus dem zürcherischen Gockhausen auch in dieser Geschichte nach und nach die Lebenslügen einer Familie auf. In «Aufräumen» hatte sie aus dem Blickwinkel einer resoluten alten Dame berichtet, die sich nicht mehr alles gefallen lassen will. Auch die etwas weniger tatkräftige Jolie steht an diesem Punkt im Leben, an dem sie sich fragt, was aus ihrem Leben geworden ist: «Jolie hat die Nase voll, sie mag nicht mehr an andere denken. Aber wenn sie an sich selbst denkt, weiss sie auch nicht weiter.»
Neues Glück scheint sie nur schwerlich zuzulassen. Über ihren Verehrer, der oft in ihrem Nähatelier auftaucht, sagt sie: «Herr Fischbacher ist nicht unappetitlich, aber er strahlt nicht.» Und über sie selbst heisst es mit einer Prise Ironie: «Sie sieht aus wie ein Fräulein, adrett und einigermassen langweilig. Hätten Napoleons Soldaten unter der Linde gelagert, wäre sie von ihnen weder begafft noch bepfiffen worden.» Bald stellt sich jedoch heraus, dass das brave Fräulein facettenreicher als vermutet ist …
Der Humor scheint in Waldis’ Büchern meist durch, Verbitterung ist trotz tragischer Erlebnisse kein vorherrschendes Gefühl ihrer Heldinnen. Sie schlagen sich tapfer durchs Leben und schütteln die melancholischen Gedanken ab, so gut sie können. «Die geheimen Leben der Schneiderin» ist ein tragikomisch-poetisches Buch – so fein gewebt wie die Stoffe, die Jolie in ihrem Atelier zur Robe schneidert.
Angelika Waldis
«Die geheimen Leben der Schneiderin»
Erstausgabe: 2008
2014 neu aufgelegt im Europa Verlag.