«Nüd jedä Hick i dr Birä isch ä Chranked», «Ich wett gar nüd vil, ich wett nur normal sii» oder schlicht «Heilandsack». Überall in Einsiedeln springen den Besuchern diese Zitate aus dem Einsiedler Welttheater ins Auge: In Schaufensterauslagen zwischen Kleidern oder Brotlaiben und – zum Leid einiger Gläubigen, die sich am Fluchwort «Heilandsack» stören – auf Migros-Tragtaschen. Einsiedeln ist wieder im Theaterfieber. Seit 1924 wird hier in unregelmässigem Turnus das Einsiedler Welttheater ausgetragen, das auf Caldérons Werk von 1635 basiert.
Mit Offenheit für Neues
Der Zusammenhalt und das riesige Engagement der Einsiedler für ihr Theater sind an allen Ecken und Enden spürbar. Trotz Hagel, Schnee, Wind oder Regen haben sie keine Probe im Freien verpasst und verzichten auf Ferien wie Freizeit. Integriert ist fast jede Familie im Dorf, wie der Einsiedler Architekt Hanspeter Kälin erzählt. Er selbst waltet seit Jahren im Theater-Vorstand und spielt in der aktuellen Produktion den von Ekzemen geplagten, auf die neue Medizin hoffenden Bauern. Seit Kindsbeinen, als er als Engel im Chor sang, ist Kälin im Welttheater involviert. Sein Grossvater und sein Vater waren als Schneider für die Kostüme zuständig, und sein Vater spielte in den 60ern dieselbe Figur wie heute der Sohn.
Den Neuerungen, die mit dem bewährten Duo Thomas Hürlimann und Volker Hesse in zwei Produktionen im 2000 und 2007 Einzug gehalten haben, stehen die meisten offen gegenüber. «Aus meiner Sicht wäre es ein grösseres Risiko gewesen, traditionell weiterzufahren. Das Publikum hat sich verändert vom traditionellen Pilger-Publikum, das sakrale Spiele mag, zum modernen Publikum, das ein Theaterereignis erwartet», meint Kälin.
Der Bettler als Penner
Auch das diesjährige Team mit Autor Tim Krohn und Regisseur Beat Fäh hat sich basierend auf Calderóns Urstoff einer brandaktuellen Thematik verschrieben. «Die Produktionen vor 2000 waren mir zu dogmatisch und zu statisch. Das Welttheater hat auch zu zeitgenössischen Fragen etwas zu sagen», betont Fäh. Tim Krohn hat aus dem Urstoff zehn Bilder geschaffen, welche das Dilemma des modernen Menschen mit seinen fast unbegrenzten Möglichkeiten aufzeigen. Das Seelenheil versprechen sie sich durch die Ärzte, die mittels Gentechnologie den perfekten Menschen erschaffen wollen. Doch der Handel mit den Genen treibt immer groteskere Blüten. Es kommt zum Exzess. «Das Stück spricht ethische Entscheidungen an, welche die heutige Gesellschaft treffen muss», führt Fäh aus. «Wir werfen die Frage auf, ob alles medizinisch Machbare wirklich sinnvoll ist.»
Die traditionellen Figuren aus Calderóns Stück übernimmt Tim Krohn teilweise oder wandelt sie ab: Der Bettler wird etwa zum Penner, der sich für medizinische Experimente zur Verfügung stellt. Die Figur der Schönheit wird bei Krohn dargestellt von einem Liebespaar, das mit vorgeburtlichen Tests jedes Risiko ausschalten will, um die schönsten und gesündesten Kinder zu zeugen.
«Das Kind aus dem See»
Und auch die in früheren Produktionen vernachlässigte Figur des ungeborenen Kindes erfährt in Krohns Stück eine Neubearbeitung: Es wird «das Kind aus dem See» genannt und stellt eine Allegorie dar auf missgebildete Kinder oder solche aus unschicklichen Beziehungen, die in früheren Zeiten im Sihlsee ertränkt wurden, wie Legenden aus dem Dorf besagen.
Beim Probeneinblick auf dem Klosterhof wird schnell klar, wer die neue Macht innehat: Es sind nicht mehr wie früher die Geistlichen, sondern die Ärzte. Unerbittlich bohren sie ihren Patienten, die mit allen möglichen Anliegen in ihrer Praxis auftauchen, den spitzen Zeigefinger in den Rücken und nötigen sie zu Leibesübungen. Unter dem gestrengen Blick des Choreografen Jo Siska und des Regisseurs üben die Laienschauspieler immer wieder dieselben Bewegungsabläufe. Damit eine einzelne Szene auf dem 40 000 Quadratmeter grossen Platz wirkt, muss jeder Spielzug bis ins Detail sitzen.
Die riesige Fläche und das dominante Kloster im Hintergrund waren auch für die Bühnenbildnerin Carolin Mittler eine Herausforderung. Sie verwandelt den Klosterplatz in eine Baustelle mit Betonmischern, Bauwagen, Gerüsten und zwei Kränen. «Im Stück versucht sich der Mensch zu perfektionieren. So wie der Mensch im Umbau begriffen ist, ist bei uns der Klosterplatz als Baustelle präsent», sagt sie. Besondere Effekte werden durch an die Klosterwände projizierte Bilder erzielt. In einer spektakulären Szene lodert etwa eine Feuersbrunst über die Fassade. Ein Blasorchester und ein 70-köpfiger Chor bilden den musikalischen Hintergrund zum üppigen Freilichtspektakel, zu dem rund 70 000 Zuschauerinnen und Zuschauer erwartet werden.
Das Einsiedler Welttheater
Fr, 21.6.–Sa, 7.9.
www.einsiedler-welttheater2013.ch
Ausstellung
Dem Meister ein Spiel. Calderón,
die Einsiedler und ihr Welttheater
Bis Sa, 30.11.
Museum Fram Einsiedeln
www.fram-einsiedeln.ch
Das traditionelle Welttheater
«El gran teatro del mundo» des spanischen Dichters Pedro Caldéron de la Barca ist um 1635 entstanden. Er stellt darin das menschliche Leben als Theaterstück dar. Alle bekommen vom Schöpfer eine Rolle zugeteilt: Der König, die personifizierte Weisheit und die Schönheit, der Reiche, der Bauer, der Bettler sowie das ungeborene Kind. Die Welt stattet sie mit Kostümen und Requisiten aus. Das Gesetz der Gnade übernimmt den Part der Souffleuse. Jeder versucht nun, so gut es die individuellen Lebensumstände zulassen, seine Rolle zu realisieren.
Am Schluss des Stücks müssen sie alles, was sie für ihre Rolle bekommen haben, wieder abgeben. Der Meister beurteilt, wer das Gebot der Nächstenliebe beachtet hat, und nimmt diese in seine Gemeinschaft auf.