Ein Abschied auf Raten
Der deutsche Regisseur David Sieveking begleitet im Film «Vergiss mein nicht» seine an Demenz erkrankte Mutter. Und entdeckt dabei eine bisher unbekannte Familiengeschichte.
Inhalt
Kulturtipp 03/2013
Urs Hangartner
Erste Anzeichen von Gedächtnisproblemen hatten sich bei Mutter Gretel vor Jahren bemerkbar gemacht. Nun ist die Krankheit fortgeschritten und Vater Malte kümmert sich um seine Ehefrau. «Mein Vater hat sich die Zeit nach seiner Pensionierung anders vorgestellt»: Eigentlich wollte der emeritierte Mathematik-Professor sich der freien Forschung widmen. Jetzt hat er sein Leben ganz nach Gretel und ihren Bedürfnissen auszurichten.
Und die Mutter? «Sch...
Erste Anzeichen von Gedächtnisproblemen hatten sich bei Mutter Gretel vor Jahren bemerkbar gemacht. Nun ist die Krankheit fortgeschritten und Vater Malte kümmert sich um seine Ehefrau. «Mein Vater hat sich die Zeit nach seiner Pensionierung anders vorgestellt»: Eigentlich wollte der emeritierte Mathematik-Professor sich der freien Forschung widmen. Jetzt hat er sein Leben ganz nach Gretel und ihren Bedürfnissen auszurichten.
Und die Mutter? «Schritt für Schritt zieht sie sich aus unserer Welt zurück.» Sie erweist sich als störrisch, dann wieder, in lichten Momenten, als ungemein witzig. Der deutsche Filmer David Sieveking stellt Fragen wie: «Hat sie mit ihrem Mann das Leben geführt, das sie sich gewünscht hat?»
Verborgene Seiten
David Sieveking, geboren 1977, hat mit seinem Kinodebüt «David Wants To Fly» vor drei Jahren eine ebenfalls autobiografisch geprägte Dokumentation vorgelegt. Darin machte er sich auf die Fersen des von ihm verehrten Regisseurs David Lynch, einem bekennenden Anhänger der Transzendentalen Meditation von Guru Maharishi Yogi. Sievekings Recherchen führten nicht nur zu einer distanzierten persönlichen Begegnung mit seinem Regie-Vorbild. Im Film entlarvte Sieveking das Treiben der Sekte als Scharlatanerie.
Der Film «Vergiss mein nicht» umfasst eine Zeitspanne von eineinhalb Jahren. Als Vater Malte für ein paar Wochen in die Schweiz in die Ferien fährt, entscheidet sich Sohn David, daheim bei der Mutter zu bleiben. Es kommt zu einer neuen Annäherung. David entdeckt sozusagen eine fremde Mutter, gleich doppelt: Da ist die Kranke, die veränderte alte Frau, die ihn manchmal nicht erkennt, die ihn gar für den Ehemann hält («Wer ist denn Malte?»). Und da ist die junge Frau, als David sie noch gar nicht kannte. Bei seinen familiären Recherchen entdeckt David Sieveking Unbekanntes.
Spurensuche in Zürich
Die Spurensuche führt in die Schweiz, in politisch bewegte Zeiten. Von 1969 bis 1975 lebten Malte und Gretel in Zürich. Er hatte an der Uni eine Assistenzstelle inne. Sie plädierte als Freigeist für die offene Ehe und engagierte sich politisch. Unter anderem gründete sie hier den ersten antiautoritären Kindergarten, war in der Frauenbewegung aktiv. Und natürlich, Sohn David findet es heraus, wurden
seine späteren Eltern in der Schweiz fichiert.
In der filmischen Gegenwart kommt es zu einem Abschied auf Raten von der Mutter. Aber auch: «Die Mutter, die ich von früher kannte, gibt es nicht mehr», kommentiert Sieveking, «Sie hat unsere Familie näher zusammengebracht». Sie starb nach den Dreharbeiten im Februar 2012. «Aus der Tragödie meiner Mutter ist kein Krankheits-, sondern ein Liebesfilm entstanden, der mit melancholischer Heiterkeit erfüllt ist.»
Letztes Jahr erhielt «Vergiss mein nicht» in Locarno in der Kritikerwoche die Auszeichnung als bester Film.
[Film]
Vergiss mein nicht
Regie: David Sieveking
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