Die Geschichte sprengt die Grenzen der kühnsten Fantasien. Der Holländer Hans Pfaall hat unzählige Gläubiger am Hals und muss sich aus dem Staub machen. Wohin nur? Am besten in die Höhe, und zwar so weit hinauf wie irgendwie möglich – also auf den Mond. Er bastelt sich einen Ballon, und ab geht die Reise ins Universum. Als Reisebegleitung nimmt er nur seine Katze mit, die unterwegs prompt Junge wirft.
Baudelaires hymnische Betrachtungen zu Poe
Edgar Allan Poe hat die Geschichte «Das beispiellose Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall» 1835 in der Zeitschrift «Southern Literary Messenger» veröffentlicht, bei der er kurze Zeit als Redaktor tätig war.
Der renommierte Übersetzer Andreas Nohl hat nun die 13 «Unheimlichen Geschichten» Poes neu ins Deutsche übertragen. Genauer: Er hat eine alte Herausgabe des französischen Lyrikers Charles Baudelaire (1821–1867) neu herausgegeben. Denn Baudelaire sah in dem mehr als zehn Jahre älteren Poe einen Geistesverwandten, ein literarisches Vorbild, das exakt seinen eigenen, dunklen Vorstellungen der Welt entsprach. Diese geistige Nähe verführte ihn zu geradezu hymnischen Betrachtungen über Poe: «Sein einzigartiges gutes Aussehen lässt sich annähernd vorstellbar machen, wenn man all die ungefähren, aber durchaus treffenden Bedeutungen zu Hilfe holt, die das Wort ‹romantisch› in sich vereint …», schreibt der Franzose etwas schönfärberisch. Er hätte ihn wie einen Heiligen verehrt, wären die beiden keine gottlosen Gesellen gewesen.
Die Gemeinsamkeiten waren auch äusserlich: Beide hielten sich für verkannte literarische Genies, beide führten ein Leben jenseits der bürgerlichen Normen, beide liebten den Griff zur Flasche. Vor allem aber: Der eine wie der andere fürchtete nichts so sehr im Leben wie seine Gläubiger, von denen sie mehr als genug hatten. Die zwei Literaten verstarben früh; Poe im Delirium tremens, Baudelaire an den Folgen einer Syphilis-Erkrankung.
Poes überbordende Fantasie packt die Leser bis heute, wie die Mondfahrt von Hans Pfaall belegt: «Der Ballon schleuderte mich über den Rand der Gondel, wo ich in haarsträubender Höhe kopfunter, das Gesicht nach aussen gekehrt, an einem etwa drei Fuss langen, dünnen Seil baumelte.» Der wackere Pfaall kann sich natürlich retten. Ganz im Gegensatz zu der Katze mit ihrem Nachwuchs, die nach einem weiteren Zwischenfall als Opfer der Schwerkraft der Erde entgegensegelte. So viel Drama musste sein.
Bis in die absolute Absurdität
In anderen Geschichten von Edgar Allan Poe geht es scheinbar ein wenig realistischer zu und her. So erzählt er in der Kurzgeschichte «Der Doppelmord in der Rue Morgue» von einem unlösbaren Kriminalfall, dem eine wohlhabende Dame und ihre Tochter zum Opfer fielen. Der Ich-Erzähler ist stets ein bisschen unterbelichteter als der Leser, während der Ermittler ein logisches Genie ist. Er führt zahlreiche Indizien zu einem Ganzen zusammen – just die Technik, die später Arthur Conan Doyle in seiner «Sherlock Holmes»-Serie aufgriff. Im Gegensatz zu Doyle wählte Poe indes eine Lösung des Krimis, die fast so absurd erscheint wie der tollkühne Flug des Hans Pfaall.
Buch
Edgar Allan Poe
«Unheimliche Geschichten»
Mit Nachwort von Charles Baudelaire
Neu übersetzt von Andreas Nohl
421 Seiten
(DTV 2017).
Deutsche Erstausgabe: 1853