Olfa kann es nicht fassen. «Warum bist du wieder hier?», fragt sie ihre Tante Selma, die aus Paris nach Tunis zurückgekehrt ist. «Alle andern hier träumen davon, abhauen zu können.» Selma aber weiss genau, was sie will. Die junge Psychologin sieht ihre Chance im Tunis der Gegenwart, wo die Leute nach den revolutionären Umbrüchen ihre Traumata verarbeiten müssen.
Doch vorerst schütteln alle den Kopf über die Rückkehrerin. Ihr Schwager Mourad beteuert, dass den Leuten ihr Glaube reichen werde, um Probleme zu lösen. «So was Schwachsinniges wie einen Psychodoktor brauchen wir nicht.»
Soziopolitische Probleme in Komödie verpackt
Doch Selma ist wild entschlossen und eröffnet ihre Praxis in einem Dachzimmer über der Altstadt. Und nach einem geschickt gewählten Werbeauftritt im nahen Beauty-Salon stehen die Leute Schlange.
Da ist der aufgekratzte Kellner, der ihr seine erotischen Träume von Saddam Hussein oder Mohamed gesteht, die Kosmetikerin mit Mutterkomplex oder der suizidgefährdete Imam. Mit einem aber hat Selma nicht gerechnet: mit Naïm. Der so kultiviert wie attraktiv auftretende Polizist erscheint eines Abends in der Praxis: Er will Selmas Arbeitsbewilligung sehen. Diese gerät damit zwischen die Fronten ihrer stetig wachsenden Klientel und der zahlreichen Ämter, die verschiedene Papiere einfordern. Doch Selma bleibt gelassen und findet ihren Platz in der neuen alten Heimat.
Es mag als Wagnis erscheinen, die soziopolitischen Probleme des aktuellen Tunesien in eine Komödie zu packen. Doch Regisseurin Manele Labidi schafft es, das maghrebinische Land in seiner multiplen Komplexität einzufangen. Tiefgehende kulturelle Fragen bringt sie ebenso zur Sprache wie die maritime Lebensfreude. Die schwierige Emanzipation von Selmas Nichte Olfa erzählt sie ebenso glaubhaft wie die Zerrissenheit des Imams oder des Polizisten Naïm. Labidi reüssiert, weil sie weiss, wovon sie erzählt. Die 38-jährige Filmemacherin ist als Tochter tunesischer Einwanderer in Paris aufgewachsen und verbrachte die Sommerferien bei den Verwandten in Nordafrika. Sie kenne «das Gefühl, nirgendwo richtig dazuzugehören», sagte sie in einem Interview.
Lebhafte Bilder mit nostalgischem Soundtrack
Die Figur der Selma gründet also in Labidis eigener Biografie. Umso wichtiger war es Labidi, für Selma eine passende Darstellerin zu finden. Golshifteh Farahani ist ein Glücksgriff. Die iranische Schauspielerin lebt seit langem in Frankreich und kennt die Heimatlosigkeit ebenfalls aus eigener Erfahrung. Bekannt geworden ist sie mit «About Elly» des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi (2009) oder «Paterson» von Jim Jarmusch (2016).
Die Wahl des Komödienfachs begründet Manele Labidi mit der Freiheit, ernste Themen mit Distanz zu betrachten, zumal Humor in der tunesischen Kultur eine zentrale Rolle spiele. Ihr gelungener Film stellt auf erfrischende Art Fragen, die auch nördlich von Afrika auftauchen können. Die lebhafte Wärme ihrer Bilder, untermalt mit einem nostalgischen Soundtrack, kann dunkle Novemberabende erhellen.
DVD
Un divan à Tunis
Regie: Manele Labidi
Frankreich/Tunesien 2019
88 Minuten
(Praesens 2020)