«Du musst raus ins Leben gehen, nach Geschichten suchen.» So fasst Gernot Grünewald seinen Ansatz zusammen. Der 1978 in Stuttgart geborene Regisseur hat sich in Deutschland einen Namen mit sogenanntem Dokumentartheater gemacht. Roger Vontobel, Schau-spieldirektor bei den Bühnen Bern, hat ihn nun mit einem speziellen Projekt beauftragt. Grünewald und sein Ensemble präsentieren mit «Hunger. Ein Feldversuch» ein Stück, das dem Publikum die Nahrungsmittelproduktion als kollektive Erfahrung vermitteln will und zum Suchen nach Lösungen auffordert.
Unterschiedliche «Player» an einem Tisch
Im Raum steht die Frage, warum heute noch immer 800 Millionen Menschen an Hunger leiden, obwohl das Problem als lösbar gilt. Grünewald teilt dabei das Publikum in Grup- pen ein, die sich in einem Gemüsegarten mit Hochbeeten (Bühne: Michael Köpke) mit der Nahrungsproduktion auseinandersetzen. An den Tischen gilt es, mal Saatgut zu gewinnen, mal Pflanzen zu ernten. Am Ende wird sogar gekocht. Schauspielerinnen und Schauspieler aus dem Ensemble der Bühnen Bern sitzen mit am Tisch und schlüpfen in die Rolle von unterschiedlichen «Playern». So kommen etwa ein Vertreter der Basler Firma Syngenta, eine Vertreterin einer NGO oder Landwirtinnen und Landwirte zu Wort. Die verdichteten Monologe sind echt. Denn dem Stück ging eine aufwendige Recherche voraus. 20 Interviews hat Grünewald im Vorfeld geführt. Sein Ziel ist es, daraus «sinnliche Theatermomente» zu generieren.
Hochaktuelle Themen bearbeiten
Ursprünglich hat Grünewald Schauspiel an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin studiert. Schliesslich entschied er sich für einen Seitenwechsel und studierte in Hamburg Regie. «Ich fand es schwierig, in Shakespeares ‹Sommernachtstraum› Aktualität zu finden.» Grünewald wollte selbst erzählen, konnte sich dabei aber weniger für das klassische Theater begeistern. Das Hier und Jetzt treibt den Theatermacher um. Für sein Stück «Dreileben» (2011) liess er junge Schauspielerinnen und Schauspieler Gespräche mit Sterbenden führen. «Die einen standen am Anfang, die anderen am Ende des Lebens.» Schliesslich habe das Stück mehr vom Leben als vom Tod erzählt. Auf Rührseligkeit will Grünewald auch bei seinem Stück für die Bühnen Bern bewusst verzichten. «Wir inszenieren keine Dystopie, sondern setzen die Utopie einer kollektiven Nahrungsmittelproduktion auf die Bühne.» Der Vorteil beim Dokumentartheater sei, dass man Themen sehr direkt bearbeiten könne, sozusagen auf Augenhöhe der Zeit. Dass das Thema Hunger durch den Krieg in der Ukraine noch einmal an Brisanz gewinnt, werde im Stück berücksichtigt. «Wir haben bei den Proben die Inhalte ständig aktualisiert», sagt er. Die Distanz, die klassischerweise zwischen Darstellern und Publikum herrscht, wird in diesem Stück aufgelöst. Alle sitzen im selben Boot, die Zuschauer könnten den Schauspielerinnen und Schauspielern beim gemeinsamen Ernten auch Fragen stellen.
Dokumentartheater in allen Facetten
Das berühmteste Aushängeschild des Dokumentartheaters ist der Berner Regisseur Milo Rau. Mit seinen medienwirksamen Reenactments begründete er ein eigenes Theaterformat. So inszenierte Rau etwa 2013 im Moskauer Sacharow-Zentrum eine 15-stündige Gerichtsschau, in der er Vertreter von Staat und Kirche gegen Kunstschaffende antreten liess. Verhandelt wurde unter anderem der Fall der Punkband Pussy Riot. Auch das 2000 in Berlin gegründete Kollektiv Rimini Protokoll entwickelt Theater aus der Realität heraus. Mit «100% Stadt» schufen sie eine weltweit immer wieder neu kontextualisierte Inszenierung, die Bürger und Bür- gerinnen auf einer Theaterbühne versammelt. Und im Stück «Situation Rooms» entwickelte die Truppe ein hyperrealistisches Set, in dem 20 Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Spuren von Menschen wandeln, deren Lebensgeschichte durch Waffen geprägt wurde.
Zunehmend gefragt auf den Bühnen
Das Anfassen von heissen Eisen und der Einbezug des Publikums gehört zum Genre. Der Hunger nach Realismus scheint gross zu sein, Dokumentartheater- Projekte stehen zunehmend auf den Spielplänen der grossen Häuser. 2013 fand die erste Ausgabe der von Boris Nikitin kuratierten Basler Dokumentartage statt. Tanz- und Theaterproduktionen, darunter auch Milo Raus Stück «Breiviks Erklärung», kamen zur Aufführung und liessen das Publikum in unterschiedlichste Realitäten eintauchen. Denn das Motto «It’s The Real Thing» ist bei diesem Festival Programm. Als Regisseur sucht Nikitin den Grenzgang zwischen Illusionstheater und Performance, zwischen Dokumentarischem, Propaganda und Fake. In seinem Stück «Erste Staffel» beschäftigte er sich etwa mit dem 20-Jahre-Jubiläum der Realityshow Big Brother. Er zoomte zurück in das Jahr 2000, als die Realität zur Reality wurde. Ähnlich wie Rau, Rimini Protokoll oder Nikitin packt auch Grünewald regelmässig Themen an, die auch mal unangenehm berühren. In einem Projekt von 2015 ging es um Kindersoldaten. Für sein Stück «ankommen », das ebenfalls auf dokumentarischem Material beruht, sprach er mit unbegleiteten Flüchtlingen. 2016 wurde Grünewald für dieses Stück, das am Thalia Theater Hamburg uraufgeführt wurde, mit dem Kurt-Hübner- Regiepreis ausgezeichnet. «Ich hatte schon immer ein Bedürfnis, mich zu engagieren», sagt der Regisseur über seine Motivation. Glaubt er, dass Theater tatsächlich etwas verändern kann? «Wenn es nicht so wäre, müsste ich aufhören.»
Hunger. Ein Feldversuch
Premiere: Fr, 14.10., 19.30
Vidmar 1 Bern
www.buehnenbern.ch