«Ich glaub, ich hab was vergessen», sagt Yoseli zu ihrem Freund, dem Transmann Nacho. Dann greifen beide während des Gefilmtwerdens nach dem Drehbuch auf dem Tisch, und es ist Nacho, dem plötzlich sein Textfehler auffällt. «Alles deine Schuld», meint Yoseli. Sie lächeln sich an.
Die Szene ist vielleicht nicht ganz typisch, da der Dokumentarfilm «Reas» ansonsten mit streng symmetrischen Figurenkonstellationen aufwartet, also bewusst fabriziert wirkt.
Das kommt selten vor in einem Genre, das nach wie vor der unmittelbaren Wahrheit und Authentizität verpflichtet ist. Aber dann blickt man hier doch ins Herz eines Werks, das ursprünglich als Theaterstück im Knast in szeniert werden sollte – wegen Corona dann allerdings als Film in einem ehemaligen Gefängnis umgesetzt wurde. Und wie! Die argentinische Regisseurin Lola Arias lässt ein halbes Dutzend Straftäterinnen, die in einem Frauengefängnis in Buenos Aires sassen, ihre eigene Vergangenheit nachspielen.
Bei diesem Reenactment erfahren wir etwa, dass Yoseli davon träumt, nach Paris zu reisen (auf ihrer Schulter prangt ein Tattoo des Eiffelturms), doch sie wurde am Flughafen wegen Drogenschmuggels verhaftet. Nacho wiederum wurde bei einem Bankomat-Betrug gefasst und gründete darauf im Gefängnis eine Rockband.
Die Schönheit im Schäbigen
Zu diesem Zeitpunkt zeigt sich, dass «Reas» keinen handelsüblichen Realismus anstrebt, der einem schwer im Magen liegen wird. Stattdessen sucht Lola Arias nach einer beschwingten Ausdrucksform, um den Erinnerungen, Träumen und Sehnsüchten ihrer Protagonistinnen ein Ventil zu geben und die Schönheit im Schäbigen zu finden.
In Theater-Workshops hinter Gittern kam Regisseurin Arias auf die Idee, wie die fehlende Privatsphäre der Inhaftierten kompensiert werden könnte – mit Tanz und Musik. So finden wir uns unversehens in choreografierten Musicalszenen wieder, etwa wenn die Häftlinge – vor dem einzigen Telefonapparat Schlangestehend – plötzlich mit den Hüften wippen, wenn sie zu Vogue oder Marinera tanzen oder wenn sie um einen Tisch herum sitzend mit den Händen wirbeln, als wollten sie die eigene Immobilität verscheuchen.
Ein Musical als Doku? Da prallen Welten aufeinander, die sich eigentlich spinnefeind sein müssten. Doch Arias blendet die Realität nicht aus. Yoseli muss etwa erkennen, dass sie trotz guter Führung keine Chance auf vorzeitige Entlassung hat. Das neue Gesetz will es so. Durch einen Fensterschlitz lässt sich zu dem erahnen, wie Nacho von drei Aufseherinnen, die ebenfalls von ehemaligen Insassen gespielt werden, verprügelt wird.
Du bist, was du aus den Umständen machst
Trotz solchen Momenten er scheint die Situation für die Gefangenen jedoch nie aus sichtslos – frei nach dem Motto: Du bist, was du aus den Umständen machst. In einer der wohl anrührendsten Szenen des Films sieht man die Frauen im Bikini an einem Sandstrand fläzen und von der Zukunft träumen. Als sich die Kamera dann in den Himmel schraubt, wird klar, dass sich der künstliche Strand im Innenhof des Gefängnisses befindet. Alles nur Theater.
Reas
Regie: Lola Arias
Argentinien/D/CH 2024, 82 Min.
Ab Do, 27.6., im Kino