Monsieur Jacquet, mit «Antarctica Calling» kehren Sie an jenen Ort zurück, den Sie seit 30 Jahren filmisch umkreisen. Was macht den Reiz der Antarktis aus?
Luc Jacquet: Es ist eine Gegend, die mich einfach nicht loslässt und jedes Mal von Neuem ein gigantisches Erlebnis bietet. Das bestätigen alle, die je dort waren: Die Antarktis ist wie eine Sucht.
Warum?
Das kann ich nicht logisch erklären, weil es dort praktisch nichts gibt. Man ist weit weg von seiner Familie und Freunden, man leidet unter der Kälte oder Hunger, man steht Todesängste aus. Aus heutiger Sicht kommt noch eine weitere Komponente hinzu.
Welche?
In der Antarktis finde ich Zuflucht. Das ist deshalb wichtig, weil mir der heutige Antagonismus, diese Alle-gegen-alle-Haltung sehr zusetzt. Da tut es gut, in einer Gegend zu sein, die überwältigend zu erleben, aber hart auszuhalten ist.
«Antarctica Calling» ist ein Film mit starken Schwarz-WeissKontrasten. Farbe sieht man nur einmal. Warum?
Auch das ist schwierig zu erklären. Für mich war es eine Entscheidung aus dem Moment heraus, ein Ausprobieren, eine Frage der Stimmung. Aber dieses Blau eines Gletschers war so unglaublich, das wollte ich auf keinen Fall verlieren.
Und wie kam es zu dem wuchtigen Soundtrack?
Musik ist für mich ein zentrales Werkzeug, um Emotionen zu vermitteln. Für «Antarctica Calling» haben wir viel in den Sound und die Musik investiert. Aber nicht zeitversetzt, wie das beim Film sonst üblich ist – erst der Ton, dann die Musik –, sondern gleichzeitig.
Auffallend ist, dass im Film kaum von der Klimaveränderung gesprochen wird. Warum?
Ich habe mich in den letzten Jahren stark engagiert, was dieses Thema betrifft. Mit «Antarctica Calling» wollte ich jedoch «back to the roots». Es ging mir darum, die Schönheit, Kraft und Poesie der Natur einzufangen und das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu beleuchten.
Bei der Filmpremiere in Locarno klebten sich zwei «Renovate Switzerland»-Aktivisten auf der Bühne der Piazza Grande fest. Haben Sie mit ihnen gesprochen?
Ja, aber erst nach dem Film. Da habe ich die beiden zufällig auf der Strasse wieder getroffen. Wir teilen viele Ansichten bezüglich Umweltschutz, aber ich äusserte auch meine Zweifel über ihre Tat. Das grosse Problem ist, dass diese jungen Menschen keine politischen Antworten auf ihre Fragen bekommen. Das ist deshalb gefährlich, weil wir uns unter diesen Umständen darauf gefasst machen müssen, dass solche Aktivisten zu immer radikaleren Mitteln greifen.
Was wenige Leute wissen: Ihre ersten Schritte als Filmer machten Sie Anfang der 1990er-Jahre ebenfalls in der Schweiz. Wie kam das zustande?
Ich war damals hauptberuflich Biologe und plante eine Reise in die Antarktis. Da rief mich Regisseur Hans-Ulrich Schlumpf an und fragte, ob ich die Kameraassistenz für seinen Film «Der Kongress der Pinguine» machen wolle. Ich hatte damals absolut keine Ahnung von Kino, aber es interessierte mich.
Und dann?
Schlumpf und ich trafen uns in Zürich, wo ich ein filmisches Blitzpraktikum absolvierte. In vier Tagen lernte ich alles übers Kino (lacht), auch, wie man eine Kamera bedient und mit Objektiven arbeitet. Die Kameramänner Pio Corradi und Patrick Lindenmaier nahmen mich mit auf einen Gletscher beim Jungfraujoch. Dann bastelten sie Pinguine aus Karton, die sie hin- und herschoben, damit ich die Kadrierung üben konnte, bevor wir in den Zoo Zürich zu den echten Kaiserpinguinen gingen. Schlumpf, Corradi und Lindenmaier bin ich aufs Innigste verbunden, sie haben für mich die Tür zum Kino aufgestossen und mich unterstützt, wo sie konnten. Als ich von meiner ersten Antarktisreise mit der Kamera zurückkam, sagten sie: «Du hast ein gutes Auge. Du solltest weitermachen.»
Zur Person
Luc Jacquet, 1967 in Bourg-en-Bresse geboren, ist ein französischer Regisseur, Biologe und Umweltschützer. Erstmals als Kameraassistent arbeitete er für Hans-Ulrich Schlumpfs «Der Kongress der Pinguine» (1993). Sein Regiedebüt gab Jacquet mit «Die Reise der Pinguine» (2005), der mit einem Einspielergebnis von 127 Millionen Dollar zum zweiterfolgreichsten Dokumentarfilm der Geschichte wurde und dem Regisseur einen Oscar einbrachte.
«Antarctica Calling»:Majestätisches aus dem Eis
Pinguine? Ja, die kommen in «Antarctica Calling» auch vor. Aber diesmal geht es Regisseur Luc Jacquet um etwas anderes, nämlich um ihn selbst und seine Beziehung zur Natur, die er in poetischen Beschreibungen einzufangen versucht. Die Reise führt Jacquet von Südpatagonien über Feuerland bis zum Südpol.
Wobei es weniger um den physischen Aspekt des Trips geht, als vielmehr um die Faszination und Ehrfurcht vor dem Eis und der Stille. Da schrammt Jacquet auch mal an esoterischen Floskeln vorbei, wenn er aus dem Off kommentiert: «Niemand kann das Packeis ohne seine Zustimmung durchqueren.»
Geschenkt. Die Bilder des Kameratrios (Jérôme Bouvier, Sarah Del Ben, Christophe Graillot) sind dank effektivem Drohneneinsatz von majestätischer Qualität, der Soundtrack von Cyrille Aufort orgelt sich einem fast gewaltsam in den Kopf.
Antarctica Calling
Regie: Luc Jacquet
F 2023, 83 Minuten
Ab Do, 1.2., im Kino