Am Anfang steht ein Geständnis, etwas anderes wäre gar nicht möglich gewesen: «Es war abscheulich und mies von mir, einfach nur furchtbar», sagt John Galliano. Der britische Modedesigner meint damit jenen Abend im Jahr 2011, als er volltrunken in einem Pariser Bistro mehrere Gäste mit antisemitischen Sprüchen beleidigte und darauf seines Amts als Chefdesigner sowohl bei Dior als auch bei seiner eigenen Modemarke enthoben wurde.
Bäume in der Frisur und Makrelen fürs Publikum
Wie hatte es so weit kommen können, dass einer der grössten Paradiesvögel der Modewelt dermassen abstürzte? Regisseur Kevin Macdonald, der mit seiner Doku «One Day in September» über die Geiselnahmen an der Olympiade 1972 einen Oscar gewann, rollt diesen Fall in klassisch chronologischer Art auf.
Mit Galliano hat er dabei eine Auskunftsperson zur Hand, die sich aller Exzesse zum Trotz sehr präzise an Höhenflüge und Abstürze («Sie wissen nicht, wie besessen ich bin!») erinnert. Als Juan Carlos Antonio Galliano Guillén 1960 in Gibraltar geboren und aufgewachsen in South London, sorgte er schon früh für Aufsehen. Etwa als er nach Abschluss seines Designstudiums am Central Saint Martins College of Art in London bei seiner ersten Show den Models Bäume in die Frisur setzte und tote Makrelen in die Menge werfen liess.
Was Galliano vorschwebte, waren keine herkömmlichen Präsentationen, sondern theatrale HistorienInszenierungen mit Models. Mit Geld konnte der Künstler freilich nicht umgehen. Darum kümmerten sich andere, zum Beispiel die Vogue-Chefredaktorin Anna Wintour oder der superreiche französische Unternehmer Bernard Arnault, der Galliano 1995 zum Chefdesigner von Dior berief.
Haltlose Exzesse und Realitätsverlust
Regisseur Macdonald zeigt diesen Werdegang akribisch – und auch die Folgen des Erfolgs: Immer wieder hört man von Gallianos Weggefährten, wie er nach dem Abschluss einer Präsentation komplett zusammengebrochen sei. Was schliesslich in immer haltloseren Exzessen mündete, vor allem, nachdem sein Assistent Steven Robinson mit nur 38 Jahren 2007 an einer Überdosis Kokain gestorben war.
Da sei Galliano mitunter in irgendeiner Gegend von Frankreich aufgewacht, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen sei. «Ich konnte niemandem sagen, dass ich den Bezug zur Realität komplett verloren hatte.» Da sei nur noch diese Leere gewesen. Als Galliano einmal aufzählt, wie sich die Aufträge immer mehr stapelten (bis zu 32 verschiedene Kollektionen pro Jahr), kann man den auf ihm lastenden Druck spüren. Warum er jedoch unbekannte Bistrogäste mit den Worten «Leute wie Sie sollten tot sein. Ihre Vorfahren hätte man vergasen sollen!» beschimpfte, bleibt ein Rätsel. Ebenso die Tatsache, dass er sich bei den Angesprochenen nicht ein einziges Mal entschuldigt hat, sondern nur sich selbst die märtyrerartige Absolution erteilt: «Ich werde mein Leben lang mit Heilung beschäftigt sein.» Einem Augenzeugen von damals ist das zu wenig. Er sagt: «Ich werde Galliano nie vergeben.»
High & Low – John Galliano
Regie: Kevin Macdonald
UK/USA/F 2023, 116 Minuten
Ab Do, 16.5., im Kino