Ein Loblied auf den Liebeskummer. Auf unser edelstes Elend, die menschlichste aller Manien, das Goldflöckchen im Unrat der Trauer. Zumindest in den ersten verheerenden Tagen der Katastrophe. Bevor die seelischen Aufräumarbeiten einsetzen, bevor man Erinnerung für Erinnerung durchgeht und sie nach Vorboten des Unheils untersucht. Bevor sich die neue Lebensarchitektur lichtet und noch bevor das Entlieben sich allmählich als einer von vielen Prozessen ins wieder befestigte Bewusstsein einreiht.
Das Loblied auf den Liebeskummer muss man singen über die Zeit, da das Herz völlig aus dem Rhythmus ist. Schiefes Organ und Höllenorgel, drückend, als wäre es viel zu eng gefesselt. Sodass das Blut nicht mehr kreist, sondern in Sackgassen steckt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sitzen kettenrauchend im Krisenstabsraum, verlieren die Nerven, brüllen einander an. Bis keiner von den dreien mehr weiss, wer jetzt eigentlich wofür steht. Unsere ganze rational komplexe Existenz verengt sich zu einer einzigen Emotion. Die Seele kann sich kein einziges Kleidungsstück Routine zur Verdeckung überziehen, sie liegt blank. Ist das nicht einzigartig? Ein Geniestreich der Sehnsucht, ein Meisterstück der Pein. Diese überbordende Empfindsamkeit, in einer Intensität, die an Irrsinn grenzt. Wann ist der Mensch mehr Mensch, als wenn er völlig verfühlt ist – wegen des Verlusts eines anderen Menschen? Ein Berg könnte das nicht, ein Nashorn nur sehr unwahrscheinlich, und so viel Geld, wie nötig wäre, um künstlicher Intelligenz Liebeskummer aufzuladen, kann man gar nicht drucken. Schreib ich jetzt so gefällig. Vor zwei Stunden lag ich allein brach und wünschte mir nichts sehnlicher als das Ende dieser ekelhaften Leier. Obwohl die Katastrophe schon in der Verwaltungsphase sein müsste.
Nicht zuletzt deswegen würde ich gern eine ganz eigene Strophe zum Loblied auf den Liebeskummer hinzufügen. Und von 37 Minuten Zugumstieg am Hauptbahnhof Fulda berichten. Sie wird sich etwas verwirrend lesen, aber ich war ja auch verwirrt. Und pathetisch, um nicht zu sagen komisch. Nur wie soll das Loblied auf den Liebeskummer denn anders klingen? Nach sozialistischem Liebeskummerrealismus?
Ich stieg also aus dem ICE in Fulda und zweifelte, ob ich diese 37 Minuten bis zum nächsten Zug des Unglücks überstehen würde. Ob ich sie überhaupt überstehen will, denn es war ja alles so furchtbar. Am Morgen ereignete sich die Katastrophe, und nun fuhr ich mit Höllenorgel-Herzen davon. Es war ganz sicher der kälteste Tag seit Wetteraufzeichnung in Fulda, und im Rest der Welt auch. Mit einem Latte macchiato, der zwar schmeckte, aber mir nicht schmecken sollte, weil sie hat ja auch gern Latte macchiato getrunken, stellte ich mich auf den Bahnhofsvorplatz. Und da waren andere Menschen, die diese Zeiten ebenfalls nicht überstehen wollten. Die wussten das aber selbst nicht – demonstrierende Querdenker. Nur eine Handvoll, in einem kleinen Zelt, aus dem ein rotbärtiger Mittfünfziger ins Mikrofon rief, dass Menschenrechte mit Masken nicht gingen. Und verlautbarte, dass alle Frauen durch die Impfkampagne unfruchtbar gemacht werden sollen. Warum muss ich das ausgerechnet jetzt erleben, klagte es in mir. Und von jener überbordenden Empfindsamkeit des Liebeskummers besessen, fragte ich weiter: Warum können wir nicht vernünftig zusammenkommen als Menschen und Gesellschaft in der Not? Was ist nur bei denen schiefgelaufen? Warum läuft immer wieder bei allen alles schief? Ach, es ist alles so traurig. Ach, es geht alles zu Ende. Währenddessen holte der unmaskierte Mann mit rotem Bart eine kleine grüne Ukulele hervor und begann, vom Meinungsallerlei zu singen. «La, la, la, Meinungsallerlei, von Meinungen gibt es am besten drei», trällerte er. Und von jener Intensität des Liebeskummers gefangen, dachte ich: So geht es also zu Ende mit mir, zur grünen Ukulele eines Verschwörungstheoretikers in Fulda. 19 Minuten blieben da noch bis zum Anschlusszug. Ich wünschte mir, einfach umzufallen. Ende. Erlösung, Höllenorgel, schweig. Und gleichzeitig, dass mich niemand bemerken würde, in diesem Zustand völliger seelischer und körperlicher Entkräftung. Denn man könnte mich mit einer Fingerspitze totstupsen. Was ja auch in Ordnung wäre. Ende. Just in diesem Augenblick schritt ein junger Mann auf das Zelt zu, nahm das Mikrofon an sich und rief mit fester Stimme: «Ich möchte in aller Deutlichkeit betonen, dass hier Falschinformationen verbreitet werden. Bitte informieren Sie sich bei den Gesundheitsämtern und vertrauen Sie der Demokratie.» Mich eben noch tot stellend in Fulda, klatschte ich plötzlich aus voller Kraft als einziger Applaus und heulte aus allen Zylindern über so viel Courage und Entschlossenheit. Und über das Leben, und über mich und über die Hoffnung, die ja doch keine Ruhe gibt, und über sie heulte ich und über uns alle und ach, ach, ach.
Das war wahrscheinlich eine ziemlich miserable, inkohärente Strophe für das Loblied auf den Liebeskummer. Und eben dadurch eine hervorragende. (Dabei habe ich noch den Teil ausgelassen, in dem der Getränkeautomat meinen Fünfeuroschein nicht nahm. Ach, ach, ach, natürlich, Dursttod im winterlichen Fulda, vorbei alles).
Liebeskummer macht den Menschen zunichte. Aber der Mensch wäre nichts ohne die Liebe auch zum Kummer. Von dem wir aufgebrochen werden und wieder zu reinen Gefühlswesen geraten. Schreib ich jetzt so stimmig. Aber später allein und brach, werde ich mir wünschen, dass diese elende Leier endlich endet.
Dmitrij Kapitelman
Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kiew geboren, kam im Alter von acht Jahren mit seiner Familie als «Kontingentflüchtling» nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Heute arbeitet er als freier Journalist unter anderem bei der «Zeit», ist als Musiker und Autor tätig. Zuletzt ist sein autobiografisches, tragikomisches Buch «Eine Formalie in Kiew» (Hanser Berlin) erschienen.