Dmitrij Gawrisch ist vielerorts zu Hause. Geboren in Kiew als Sohn eines Diplomatenpaars, kam er als Kind nach Bern, wo er zwar «der Ausländer», aber trotzdem privilegiert war. Er erzählt: «Einmal hielt mich die Polizei an. Die dachten, dieser herumlungernde Schüler verkaufe Drogen. Als sie meinen Diplomatenausweis sahen, haben sie salutiert.» Gawrisch lacht. Beim Gespräch im Berner Café «Vierte Wand» wirkt er, versteckt unter seiner alten, grünen Mütze und einer Hornbrille, zurückhaltend, aber freundlich, vermeidet Augenkontakt.
Nach der Schule hat Gawrisch Wirtschaft studiert, wollte aber nie Banker werden. Er schrieb lieber für die «Handelszeitung». «Ich dachte, mit Theater kann man kein Geld verdienen. Ich war 26 und voller Existenzangst.» Zeitgleich absolvierte er den Dramenprozessor am Zürcher Theater Winkelwiese. Mit dem entstandenen Stück «Brachland», der Geschichte zweier Migranten, die im Westen ihr Glück suchen, wurde er zum Stückemarkt am Berliner Theatertreffen eingeladen.
Heute arbeitet er beim «Reportagen»-Magazin, pendelt zwischen Berlin und Bern, wo er Hausautor des Stadttheaters war. Seinen Texten lässt Gawrisch viel Zeit. «Am Anfang steht die Faszination», sagt er. «Die gärt dann jahrelang im Notizbuch.» Während des Schreibens trage er Schicht um Schicht ab. Das Wirtschaftsstudium blitze manchmal durch. So suchen seine Figuren ihren Platz in der Welt und stellen fest: «Alles hat einen Preis.»
«Dem Schmerz das Lachen entgegenstellen»
Gawrisch sagt, er sei kein Autor, der versuche, direkt politisch zu sein. «Ich finde es gerade dann spannend, wenn es nicht eindeutig ist und man am Ende sogar den vermeintlich Bösen sympathisch finden kann.» Seit dem Krieg in der Ukraine habe er aber mehr Verständnis für aktivistisches Schreiben. «Als Betroffener kann ich im Moment nur auf eine Art über die Ukraine sprechen.»
Journalistisch verfasst er Texte zum Krieg, literarisch könne er das noch nicht. «Mit der ‹Dampfnudel› wollte ich dem Schmerz das Lachen entgegenstellen.» «Die Dampfnudel» handelt von einer Patchworkfamilie, die vor der Einschulung des Kindes steht. Gawrisch selbst lebt in Berlin mit seinen zwei Söhnen – einer stammt aus seiner aktuellen, einer aus seiner ehemaligen Beziehung. Beim Schreiben habe er sich aber von seiner Biografie entfernt und die Grundmuster einer Patchworkfamilie angeschaut.
«Da geschieht viel Absurdes, worüber man – mit etwas Abstand – auch lachen kann.» In einer Patchworkfamilie passierten viele Verletzungen, sagt er. Die Erfahrung stärke einen aber auch, weil man sich besser kennenlerne und sich seinen Gefühlen stellen müsse. «Wenn es funktionieren soll, muss man Verantwortung übernehmen.»
Die Dampfnudel
Premiere: Mi, 3.4., 19.30
Vidmarhallen, Bern
Dmitrij Gawrischs Kulturtipps
Roman
Doris Wirth: Findet mich (Geparden 2024): «Ein Buch für all diejenigen, die immer schon tief in die Abgründe von Herr und Frau Schweizer blicken wollten.»
Buch/Theater
Lydia Nagel (Hg./Übersetzung): Zeitreisen durch die Gegenwart – Theatertexte aus der Ukraine (Neofelis 2024): «Wie verarbeiten ukrainische Autorinnen und Autoren den Krieg in ihrer Heimat? Diese Anthologie versammelt die wichtigsten Theatertexte aus der Ukraine.»
Festival
True Story Festival: «An drei Tagen wird Bern zur Welthauptstadt des Journalismus, internationale Stars der Szene geben sich die Klinke in die Hand. Wer aufregende wahre Geschichten mag, wird hier fündig.» Fr, 24.5.–So, 26.5., div. Orte in Bern