Kann man Musik sehen? Wer diese Frage verneint, sollte beobachten, was zum Schluss eines Konzertes am meisten zu reden gibt: Das Tempo des dritten Satzes? Das kurze Kleid der Solistin? Oder das Aussehen, Charisma und die Bewegung des Dirigenten?
Für bestimmt mehr als 60 Prozent der Besucher sind es die beiden letzten Fragen. Das Kleid der Solistin sei mal vergessen. Aussehen, Charisma und Bewegung des Dirigenten sind spannend, führen sie doch via Orchester ins Publikum. Der legendäre EMI-Musikproduzent Walter Legge fragte einst zu Recht: «Was ist denn die Gestik eines Dirigenten?» Der Fachmann antwortete gleich selbst: «Sie ist die Verlängerung seines musikalischen Willens.»
Leonard Bernstein (1918–1990) sah im Akt des Dirigierens einen Eros im antiken Sinn, verstand sich als Beschwörer einer schöpferischen Urkraft. Der «Lenny-Tanz» wurde legendär – und war einzelnen Kritikern suspekt.
Emotion oder nicht – das ist hier die Frage
So kam es zur Gegenbewegung. Mit der Ablehnung dieses Emotionsfanatismus konnte das Publikum nämlich fast genauso beeindruckt werden. Pierre Boulez (1925–2016) bewies es mit eruptiver Teilnahmslosigkeit – die Aura des Komponisten-Übervaters sorgte für den Rest.
Daneben oder darüber standen die Ästheten Herbert von Karajan (1908–1989) oder Lorin Maazel (1930–2014). «Seht her, ich kann mit meinem kleinen Finger 100 Menschen vor und 2000 hinter mir bewegen!», lautete ihre Botschaft. Wer das in Vollendung sah, glaubte es. Solche Magie brachte viele Neider, ja Spötter hervor.
Und Kritiker. Der Erfolg von Boulez’ Dirigierstil wurde von den damals jungen Kritikern als Kühnheit angesehen. Sie war die Antwort auf die Taktstock-Feldherren. Noch heute haben viele der in den 1970er-Jahren eingestiegenen Musikkritiker mit den Emotionsfanatikern Mühe. Mariss Jansons, Andris Nelsons oder Christian Thielemann: Als «Show-Dirigieren» wird ihr Stil gerne abgetan und als Rückschritt in überwunden geglaubte Zeiten angesehen.
Mittelalterliche Dirigenten wie die Italiener Daniele Gatti und Antonio Pappano oder der Deutsche Christoph Eschenbach und der Österreicher Franz Welser-Möst zogen sich bei aller Dirigenteneitelkeit klug in genau diese Arbeiterrolle zurück – im Wissen, dass sie nie in den glanzvollen Kreis der MMMs, der Mehta–Muti–Maazels eindringen würden. Das kam bei vielen Kritikern, die genug hatten vom Klassikzirkus und seinem arroganten Stargehabe, gut an.
Die Aura des korrekten Kapellmeisters kann aber zu einer Schubladisierung führen. Das zeigt der Fall von Ingo Metzmacher: Sein von vielen Kritikern geliebtes analytisches Dirigieren machte ihn zum Spezialisten des 20. Jahrhunderts. Metzmachers US-Karriere wollte nie recht anlaufen. Nicht der dirigierende Professor ist in Amerika gefragt, sondern der charismatische PublikumsUmarmer: Metzmacher-Konzerte verkauften sich nicht. Die Kluft zwischen Kritikern und Publikum, zwischen Anspruch der Intendanten und der Zuhörer ist in Amerika viel kleiner als in Europa, wo Subventionen über ein ausbleibendes Publikum hinwegtäuschen. In Amerika spielt der Markt, fast alles läuft über Sponsoring beziehungsweise Mäzenatentum.
Den Frauen gehört die Zukunft
Typisch: Die tanzenden Emotionsfanatiker Gustavo Dudamel, Riccardo Muti, Yannick Nézet-Séguin und Andris Nelsons werden in Los Angeles, Chicago und Boston als Chefdirigenten geliebt. Europa zieht wohl nach. So stand im Sommer erstmals Riccardo Chailly vor dem Lucerne Festival Orchestra. Auch er trotz Jahrgang 1953 ein Sanguiniker. Denn bei den von Sponsoren abhängigen Festivals in Luzern, Gstaad und Verbier herrschen bereits US-amerikanische Verhältnisse. Dort dirigieren neben ein paar Quoten-Kapellmeistern die Kassenrenner Valery Gergiev, Daniel Barenboim, Andris Nelsons, Charles Dutoit & Co.
Und im Trends setzenden Luzern waren es im Sommer zudem die Frauen, war doch «Prima Donna» Festivalthema. Bezeichnend: Im Februar machte das bekannte Orchester aus Birmingham die 29-jährige Mirga Grazinyte-Tyla zur Chefdirigentin. Den jungen Weltumarmern und Frauen wie Grazinyte gehört die Zukunft. Bezeichnenderweise darf Gustavo Dudamel am 1. Januar 2017 das Wiener Neujahrskonzert leiten und in den erlauchten Kreis der Entrückten – der MMMs plus Daniel Barenboim, Simon Rattle und Mariss Jansons – eintreten.
Spannend wäre wohl ein Blindtest
In der Alten-Musik-Szene gingen sich die Ikonen John Eliot Gardiner, der verstorbene Nikolaus Harnoncourt und der betagte Roger Norrington klug aus dem Weg, und auch die anderen schufen sich ihre Gärtchen mitsamt Türchen in die grossen Institutionen. Umso mehr sticht heute der Grieche Teodor Currentzis (*1972) hervor – der «Marilyn Manson der Klassik». Currentzis erinnert an einen anderen russischen «Magier», an den finsteren «Rastputin» Valery Gergiev (1953).
Alles Psychologie? Solange ihn die einen bewundern, die anderen ablehnen, muss es das wohl sein: Die Welt liebt heutzutage Menschen, die das Publikum spalten.
Das Auge hört mit: Spannend wäre es zu sehen, was der Blindtest mit Aufnahmen der Pole Boulez und Bernstein, Haitink und Gergiev oder Nelsons und Welser-Möst zu Hause im Ohrensessel zutage brächte.Christian Berzins
Konzerte/Oper
Charles Dutoit
Marinsky Orchestra
Sa, 24.9., 19.30 Tonhalle Zürich
Teodor Currentzis
«Die Entführung aus dem Serail»
Oper von W.A. Mozart
Premiere: So, 6.11., 19.00 Opernhaus Zürich
Valery Gergiev
Mariinsky Orchestra
Mo, 14.11., 19.30 KKL Luzern
Di, 15.11., 19.30 Tonhalle Zürich
Mi, 16.11., 20.00 Victoria Hall Genf
Do, 17.11., Kultur Casino Bern
Karten unter: www.migros-kulturprozent-classics.ch