Es ist, als habe sich ein Organismus im alten Fabrikgebäude eingenistet. Weisses, watteähnliches Material bedeckt den Boden. Wie Adern spannen sich schmale schwarze Stoffbänder kreuz und quer zwischen der niedrigen Decke, den Rohren und Geländern. Man könnte dieses Geflecht als bedrohlich empfinden, würde einem Mirko Borscht nicht das Unbehagen nehmen. Ein Kraftort soll dieses Nest sein, die Bewohner von Cybercity können sich hierhin zurückziehen – und wenn sie sich getrauen, auch die Zuschauer des gleichnamigen Stücks.
Mit «Cybercity» inszeniert der deutsche Regisseur Mirko Borscht für das Luzerner Theater eine begehbare Zukunftsvision. Im Viscosi-Areal in Emmenbrücke, wo während Jahrzehnten Kunstseide hergestellt wurde, ist eine Mischung aus Theaterspaziergang, Installation und Film entstanden. Die Zuschauer tauchen in eine Welt zwischen Realität und virtuellem Raum ein. Hier tummeln sich sogenannte Nails – Menschen, die sich Implantate einsetzen lassen, um in eine digitale Fiktion abzutauchen. Eine berühmte Schauspielerin soll für diese Art der Unterhaltung ihre Träume digitalisieren lassen. Doch sie zögert.
Das Stück ist bereits das zweite Jugendprojekt des Luzerner Theaters. Entwickelt hat es Borscht zusammen mit rund 30 Jugendlichen aus der Region. Der 48-Jährige ist bekannt für seine Theaterarbeit mit jungen Laiendarstellern. Um die Digitalisierung zu behandeln, sei der Einbezug Jugendlicher zwar nicht essenziell, so Borscht. Dennoch entstand gerade durch das Zusammentreffen unterschiedlichster junger Menschen eine Produktion, die das Thema passend aufnimmt.
«Bewegt sich diese Generation heute im Netz, läuft alles parallel», sagt Borscht. Diese Gleichzeitigkeit gibt es auch in «Cybercity»: Das Stück spielt in mehreren Fabrikräumen. Cyborgs führen die Zuschauer Metalltreppen hoch und unter dicken Rohren hindurch zu verschiedenen Szenen. Handlungsstränge finden zeitgleich statt und werden wieder zusammengeführt. Im Vorraum lässt sich das Stück als Ganzes in der Filmversion anschauen.
Auch das Bühnenbild verbindet Inspirationen und Zitate. Die grob gemalten und fragmentarischen Bühnenbilder erinnern an Comic-Metropolen. Ein dunkler Behandlungsraum mit Röntgenbildern, altmodischem OP-Tisch und flimmerndem Bildschirm evoziert den Science-Fiction-Klassiker «Blade Runner». Für den «Kraftort» liess sich Borscht wiederum von der Natur inspirieren: das Pilzgeflecht als organische Entsprechung für das nicht-fassbare Internet. So ist «Cybercity» mal düster, mal anarchisch und skurril. Und wirft dabei Fragen der Authentizität in der fortschreitenden Digitalisierung auf. Es entsteht eine Ambivalenz, die es in den Augen von Mirko Borscht braucht. Denn: «Am Schluss müssen die Zuschauer entscheiden, ob sie darin Dystopie oder Chance sehen.»
Androiden in der Oper «Humanoid»
In Borschts Cybercity würden sich vielleicht auch Pamela Dürrs Androiden zu Hause fühlen. Die Schweizer Autorin hat das Libretto geschrieben für Leonard Evers Science-Fiction-Oper «Humanoid», die zunächst im Theater Winterthur und dann im Konzert Theater Bern aufgeführt wird. Wie «Cybercity» greift auch «Humanoid» ein aktuelles digitales Thema auf: Wie wird sich Künstliche Intelligenz künftig auf unser Leben auswirken?
In Dürrs und Evers Jugendoper hat Protagonist Jonah die Androidin Alma erschaffen, deren Gedächtnis er sicherheitshalber vor dem Schlafengehen stets löscht. Doch eines Abends funkt ihm ein Kind dazwischen: Almas Erinnerungen werden in den einfachen Roboter Juri transferiert, die Situation gerät ausser Kontrolle. Was zunächst nach einer Dystopie klingt, sieht Pamela Dürr aber als einen ergebnisoffenen Zukunftsentwurf. «Ich habe mir überlegt: Was kann die Oper zum Genre Science-Fiction beitragen?», sagt die Autorin und beantwortet die Frage gleich selbst. «Die Emotionen! Über die Musik können emotionale Klangwelten erkundet werden.»
Denkstoff für Jugendliche und Erwachsene
So wird das Bühnenbild für «Humanoid» nüchtern sein – drei übers Kreuz liegende Stege, auf denen sich die Figuren begegnen. Der Raum ist offen für Fragen der Programmierbarkeit von Gefühlen und Erinnerungen, der Beziehungsfähigkeit zwischen Menschen und Künstlicher Intelligenz. Dürr sieht in der Oper Denkstoff für Jugendliche und Erwachsene. «Wir entwickeln drauflos, ohne zu überlegen, was wir da eigentlich in die Welt hinein erfinden. Gläserne Menschen, Informationsblasen, Altenpflege durch Roboter – wollen wir das überhaupt?» Gerade ihre Generation drücke sich teilweise davor, bezüglich Digitalisierung eine Haltung zu entwickeln, fügt die 48-Jährige an. «Es ist das Kind, das über die Beziehung zu den Androiden etwas Neues entwickelt. Es zeigt Verantwortungsbewusstsein, das die Erwachsenen nicht haben: Für das Kind ist der Android etwas, das Respekt verdient.»
Doch ist das Theater der richtige Ort, um Hoffnungen und Ängste der Digitalisierung zu verhandeln? In Zeiten, in denen sich moderne Serien wie «Black Mirror» schon längst erfolgreich diesen Themen angenommen haben? Sowohl Regisseur Mirko Borscht als auch Autorin Pamela Dürr sind der Meinung: Ja. Gerade weil das Medium Theater nicht mehr die Relevanz von einst besitze, könne es sehr frei mit solchen Stoffen umgehen, sagt Borscht. Und auch Pamela Dürr sieht das Potenzial der Bühne, wieder der Ort zu werden, an dem über das Leben nachgedacht wird. «Ich würde mir wünschen, das Theater böte sich wieder vermehrt für Gedankenspiele an. Das Medium besitzt eine grosse Kraft, um Visionen, Utopien durchzuspielen und Empathie zu schulen.»
Humanoid
Premiere: Do, 21.2., 19.30
Theater Winterthur ZH
Ab Do, 14.3., 19.30
Konzert Theater Bern
Cybercity
Öffentliche Probe: Di, 26.2., 18.00 Premiere: Sa, 9.3., 19.30
Viscosi Emmen LU