Bislang verlief das Leben der Familie Sandmaier in geordneten Bahnen: Vater Gerhard ist Geschichtsprofessor, seine Gattin Margret Familienfrau, ihr Sohn Sebastian Student. Mit dem Auszug des 22-Jährigen jedoch gerät das stabile Gefüge der Dreiergemeinschaft ins Wanken. Denn Sebastians Wegzug hinterlässt im Haus der Eltern nicht nur physisch eine Lücke.
Margret hatte schon den Rückzug des Sohnes ins angebaute Studio ihres Einfamilienhauses als Vertrauensverlust empfunden. Die gänzliche Abnabelung ist nicht nur schmerzlich für sie, die fürsorgliche Mutter versteht sie schlichtweg nicht. Genauso wenig begreift sie, dass ihr Sohn das von ihr geschenkte Bild von Paul Klee im kleinen Studio hängen lässt, dafür aber die Lithografie von M.C. Escher mit den vielen Treppen mitnimmt. Margret mochte das Bild nie, auch wenn ihr der Sohn einmal erklärt hatte, was ihn daran faszinierte: «Die unterschiedlichen Perspektiven, die Escher darin ineinander geschachtelt habe, was den Betrachter dazu zwinge, immer wieder seinen Standpunkt zu wechseln.»
Doch Margret liebt es geordnet, Eschers Werk ist ihr «fremd geblieben, abweisend». Genauso wie das Tun und Handeln ihres Sohnes. Um das Leben wieder in gerade Bahnen zu lenken, sucht das Ehepaar Sandmaier nach einem passenden Nachmieter. Dieser wird mittels ausführlichem Auswahlverfahren gesucht und gefunden. Beat, ein Fahrradmechaniker, erweist sich allerdings als wortkarger, scheuer Mann, der Kontakten aus dem Weg geht. Die Bemühungen von Margret, Beat näher kennenzulernen, fruchten wenig. Er bleibt unnahbar. Warum, wird sich Monate später zeigen: Die Polizei verhaftet den unscheinbaren Mieter mitten in der Nacht aus seiner Wohnung heraus. Beat hatte immer wieder Frauen mit einem Messer attackiert.
Folgenreiche Tat
Ein Schock – nicht nur für Margret. Für sie allerdings stürzt eine heile Welt in sich zusammen. «Dieser junge, scheinbar unberührte Mann mit den schlaksigen Gliedern, der Mann, der Lust mit Gewalt koppelte, hatte ihre Krise ausgelöst (…) Ihr Elend hatte nicht so sehr mit ihm oder mit Sebastian zu tun, sondern mit all dem, was ihr abhandengekommen war. Oder was sie selbst nie zugelassen hatte.» Psychisch stark angegriffen kommt sie nach 26 Jahren Ehe zur Erkenntnis: «Was sie letztlich noch zusammenhielt, waren Gewohnheiten und
die Bequemlichkeit der mittleren Jahre, in denen man sich gegen tiefgreifende Veränderungen sträubt.»
Nach dem politischen Roman «Auf beiden Seiten», wo Lukas Hartmann die Geschehnisse der Jahre 1989/90 aufarbeitete und sich mit Themen von Macht, Doppelbödigkeit und Denunziantentum beschäftigte, entwirft der 1944 in Bern geborene Autor in seinem neusten Roman das Psychogramm einer gutbürgerlichen Familie. Dabei erweist er sich einmal mehr als sensibler Beobachter gesellschaftlicher und menschlicher Befindlichkeiten. Vor dem Hintergrund einer realen Begebenheit entwirft er dieses spannende Drama.
Wie er im Interview mit einer Illustrierten sagte, hielt er sich an den Fall des jungen Waffenläufers, der vor einigen Jahren in Bern Frauen angriff und tötete. Indem Hartmann jede seiner Figuren auf die Tat und den Täter reagieren lässt, ergibt sich ein komplexes Bild menschlichen Verhaltens. Das ist höchst raffiniert und äusserst geschickt, denn der Täter an sich rückt so zwar nicht aus dem Zentrum der Geschichte, wird aber nie zum Hauptakteur. Die Wirkung seines Tuns und Handelns auf die Menschen um ihn seziert Hartmann mit grösster Akribie bis an die Grenze des Erträglichen. Meisterhaft.
Lesungen
Sa, 3.9., 14.00 Stapfenfest Köniz BE
Mi, 21.9., 19.30 Haus der Religionen Bern
Lukas Hartmann
«Ein passender Mieter»
368 Seiten
(Diogenes 2016).